Die Eistoten: Thriller (German Edition)
dann ist der dumme August nur eine andere Gestalt des weißen Clowns, und der weiße Clown ist das verborgene Bewusstsein des Zuschauers. Er kennt ihre intimsten Wünsche. Nur weil er ihre Geheimnisse kennt und nur weil die Zuschauer dies unbewusst spüren, können sie über ihn und den dummen August lachen. Kennst du Francesco Caroli? Er trat im Zirkus auf. Wohl der berühmteste Weißclown. Seine Maske war ein Geheimnis, und manche behaupteten sogar, dass Caroli, sobald er die Maske aufgetragen hatte, nicht mehr Caroli gewesen wäre. Es war kein Mensch darunter … Das war jedenfalls die Legende vom Weißclown. Was du aber gesehen hast, war nicht wirklich, wie die meisten Menschen Wirklichkeit sehen. Die Wirklichkeit von Supermärkten, Verkehrsstraßen, Quizshows, Geld, der Vierzig-Stunden-Woche, Strandurlaub …«
»So wirklich wie Sie?«
Das war ein Witz, doch sie vergaß, dass Wittgenstein ein ganz und gar humorloser Mensch war. Logik war nicht witzig.
»Wirklichkeit ist ein Begriff, den man nur auf das Stoffliche und auf Sinnesreize anwenden sollte. Es gibt noch mehr Wirklichkeiten, die viel realer sind als die sinnliche.«
»Was wollte der Typ von mir?«
»Das weiß niemand so genau, nicht einmal die Philosophen und Denker der Jahrhunderte.«
»Hat er mir die Beule verpasst?«
Wittgenstein schüttelte den Kopf. »Nein, er schlägt die Menschen nicht. Er tut viel Schlimmeres. Er zerstört sie von innen.«
Alice hörte Wittgensteins flüsternde Stimme wie ein Radio mit schlechtem Empfang. Und wenn ihr Vater doch recht hatte? Wenn sie tatsächlich seit dem Tod ihrer Mutter kein normales Kind mehr war? Wenn sie tatsächlich verrückt war? Wenn die Beule am Kopf gar kein Schlag war, sondern einfach nur ein Unfall. Sie rutschte aus, schlug mit dem Kopf auf dem Steinpflaster auf und war für ein paar Sekunden ohnmächtig. Was, wenn sie sich einfach nicht mehr an den Sturz erinnerte? Wenn ihr die Sekunden vorher fehlten? Dann würde sie annehmen, dass sie jemand niedergeschlagen hatte.
Wenn deine Psyche destabilisiert war, wie Doktor Schreber ihrem Vater erzählt hatte, wenn es keine Beule gab und auch keinen Wittgenstein. Wenn das alles nur Geburten aus ihrem Kopf waren. Sie versuchte nicht mehr zu denken. Sie hielt sich die Augen zu und konzentrierte sich auf ein Kinderlied. Ringel, Ringel, Reihe …
Wittgenstein saß noch immer seelenruhig im Korbstuhl. Wenn Schreber von Wittgenstein wusste? Wenn er herausbekäme, dass Alice sich mit einem Philosophen unterhielt, der schon seit einem halben Jahrhundert tot war, dann würde sie den Rest ihres Lebens in der psychiatrischen Klinik verbringen.
Plötzlich hatte sie Angst, dass ihr Verstand eine Gummizelle war und sie saß darin und wusste es nicht. Wittgenstein erschiennicht jedem. Nicht jeder sah die alten Gestalten, von denen über die Jahrtausende nur Worte übriggeblieben waren. War sie die Einzige auf dieser Welt, die sie sehen konnte? O Gott, Alice, die Psychiatrien waren voll von Leuten, die solche Dinge sahen wie sie.
Alice schloss ihre Augen und hoffte, dass Wittgenstein verschwunden war, wenn sie sie wieder öffnete. Doch Wittgenstein blätterte in dem Geo-Heft über Ägypten und griff dann zu IT-IN, einer Computerzeitschrift, die Tom ihr geliehen hatte. Wittgenstein schien fasziniert von der Code-Sprache der Hacker, von der Vorstellung virtueller Viren und von Sprachen, die nur Maschinen verstanden.
»Virtuell«, sagte er, »interessant, was die da schreiben … Das ist keine Realität, sondern etwas zwischen Realem und rein Geistigem. Die Realität der Gedanken.«
»So ähnlich habe ich das auch verstanden, aber in was für einer Gefahr schwebe ich?«
Wittgenstein legte die Zeitschrift weg und ging zum Fenster. »In einer virtuellen Gefahr.«
»Eine virtuelle Gefahr läuft mir nicht auf dem Trottoir nach, und man kann sie auch nicht im Bus sehen.«
»Es ist Zeit, Alice, dass ich dir ein paar Dinge erkläre. Ich dachte, wir haben noch Zeit, bis du ein bisschen älter bist. Aber die Zeit drängt. Wir können nicht mehr länger warten.«
»Wer ist wir?«
»Ich und die anderen. Gedulde dich …«
»Die anderen, das ist ja mal supergenau.«
»Das Wort ›virtuell‹ gefällt mir, weil es eben nicht nur erfunden oder eingebildet bedeutet. Es ist weder Realität noch Phantasie, sondern ein Zwischending. Die Gestalt, die du wahrscheinlich im Bus gesehen hast, kannst nur du sehen – und noch ein paar andere Menschen mit derselben
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