Die Eistoten: Thriller (German Edition)
erzählt, dass du eine rege Phantasie hast und dich für Kriminalistik interessierst. Du spielst gerne Sherlock Holmes oder besser Miss Marple … Aber manchmal sieht die Wirklichkeit viel banaler aus. Sie ist schrecklicher, weil vieles ganz ohne Grund geschieht, zufällig und ohne jede Bestimmung. Das ist schwierig zu akzeptieren …«
Woher kann er so reden? Hört sich an wie Schreber.
»… besonders, was du alles mitgemacht hast, nach dem Tod deiner Mutter.«
»Hör auf damit!«
»Alice, du musst der Wirklichkeit in die Augen sehen. Das ist schwer, vielleicht viel schwerer, als du denkst, aber wenn du weiter in deiner Phantasiewelt lebst, dann verlierst du eines Tages ganz die Kontrolle.«
»Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen?«
»Amalia hat mir erzählt, dass dein Vater sich Sorgen um dich macht, dass er Angst hat, dass du dich in deine Bücherwelt flüchtest.«
»Amalia ist eine dumme Ziege, die keine Ahnung hat, schon gar nicht davon, was seit Jahren in Hintereck abläuft.«
»Amalia ist nicht dumm. Sie steht nur mit beiden Beinen in der Realität. Sie möchte ihre Schule zu Ende bringen, einen Beruf lernen, heiraten und Kinder kriegen, so wie jede …«
Alice hatte genug gehört. Es war sinnlos, in Stephan einen Verbündeten zu suchen.
Oh, du solltest ihm von dem Clown erzählen, von Wittgenstein …
»Du hast aber auch keinen Beweis, dass ich unrecht habe.«
»Ja, genauso kannst du annehmen, dass irgendwo im Universum ein riesiger Teekessel kreist.«
»Das ist Bertrand Russells Teekanne«, ergänzte Alice. »Es war kein riesiger Teekessel, sondern ein kleiner. Diese Teekanne würde zwischen Erde und Mars kreisen, in einer elliptischen Bahn. Zu klein, um selbst von den besten Teleskopen entdeckt zu werden. Niemand könnte eine solche Behauptung widerlegen.«
»Ja«, freute sich Stephan ganz offensichtlich über Alices Bestätigung, »der Teekessel ist wie dein Mörder ohne Spuren.«
»Aber es gibt ja Spuren.«
»Und wie glaubst du, dass du das beweisen kannst?«
»Weil der Mörder einen Fehler gemacht hat.«
»Und welchen?«
»Das kannst du dann in der Zeitung lesen.«
»Und wer ist deiner Meinung nach der Mörder? Der unbekannte Kindermörder mit dem schwarzen Mantel?« Stephan wirkte amüsiert, und Alice sah in Gedanken, wie er mit Amalia über Alices Vermutungen kicherte.
»Kein Unbekannter.«
»Wenn du einen Verdacht hast, dann solltest du zur Polizei gehen. Die finden schon Genspuren auf der Leiche.«
»Der Täter ist vorsichtig. Er weiß, wie er vorzugehen hat.«
»Du tust so, als würdest du ihn kennen.«
»Ich kenne ihn nicht …«
»Es hat sich aber so angehört, als wüsstest du …«
»Ich weiß, dass er aus Hintereck kommt. Und ich weiß, dass er schon versucht hat, mich umzubringen.«
28.
Sie kamen schleppend durch das Seitenschiff. Einige saßen auf den Holzbänken vor dem Altar und beteten. Erst wenn sie hörten, dass jemand den Vorhang im Beichtstuhl zurückzog, standen sie auf. Tom konnte das Flüstern im Beichtstuhl sogar ohne seine Abhöranlage hören. Doch es war nur ein Zischen, verzerrt vom steinernen Echo zwischen den Säulen.
Wegener war einer der Ersten. Merkwürdigerweise beichtete er eh nur, was alle schon wussten. »Vergib mir meine Sünden … Ich habe zu viel Mietzins für das Nebengebäude der Fleischerei verlangt, obwohl ich das Geld nicht brauche, vergib mir meine Gier, vergib mir, dass ich die Frau eines anderen begehre, vergib mir, dass ich nicht stark genug bin, um ihr zu widerstehen, vergib mir, dass ich sie zwinge, ihren Mann anzulügen, vergib mir, dass wir Unzucht im Ehebett ihres Mannes getrieben haben, vergib mir meine dunklen Gedanken, schwärzer noch als die Gedanken des Teufels … wenn ich hoffe, dass ihr Mann tödlich verunglückt und am besten noch den Sohn mitnimmt …«
»Mein Sohn, sprich weiter«, sagte Pfarrer Bez.
»… vergib mir, dass ich mit dieser Frau Pläne schmiede; wie sie sich am besten von ihrem Mann trennt, um richtig abzukassieren …«
Wegener hatte sein Sündenregister heruntergebetet, als wären es lauter Standardformulierungen. Bez sprach leise. Tom konnte das Ego te absolvo auch ohne Mikro hören.
Danach herrschte kurze Zeit Stille. Eine geduckte Gestalt, eingewickelt in ein schwarzes Kopftuch, schlurfte über den Steinboden. Tom streckte sich aus seinem Versteck, um das Gesicht erkennen zu können. Doch der Umhang und die Dunkelheit verdeckten alles.
»Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt …«
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