Die Eistoten: Thriller (German Edition)
in eine Höhle führte. Dahinter stand Stephan in einem Chaos aus Papier, Zeitungsausschnitten an der Wand, Fotos, gemalten Familienporträts. In der Mitte ein Tisch mit einer Schreibmaschine, eine mechanische Olympia.
Plötzlich überkam Alice ein beklemmendes Gefühl, so als stünde sie in einem überfüllten Aufzug. Vielleicht lag es an der dicken Mauer und dass die Tür wie eine Kerkertür wirkte. Sie hatte gerade den hinteren Winkel des lang gezogenen Zimmers wahrgenommen, als sie erstarrte. Stephan posierte neben einem Lesepult, die Hand auf der speckigen Schreibunterlage. Irgendwie war er seltsam bemüht, einen guten Eindruck auf Alice zu machen, so als hätte er Amalia vor sich, doch seine Augen waren kalt wie gläserne Puppenaugen. Aber nicht Stephan hatte sie erschreckt.
Zwicken … es tut weh. Du bist nicht verrückt oder schon so verrückt, dass du es nicht mehr merkst. Hirli hirli hirle huuuuu. Der dumme August …
Der Clown saß an dem Lesepult und blätterte in der Tageszeitung.Aus der Nähe sah der Clown aus wie eine weiß übertünchte Holzstatue. Nur die Augen bewegten sich. Rote, blutunterlaufene Augen. Seine weißen Finger hockten wie eine lauernde Spinne auf der Zeitung. Seine schwarzen Fingernägel waren gebogene Krallen. Wie erstarrt folgte Alice den zähen Bewegungen des Clowns. Skratsch … skratsch … Stephan schien den Clown nicht zu sehen.
Er hört es nicht, das grässliche Kratzen, dachte Alice.
»Ist irgendwas?«, fragte er.
Weder Stephan noch der Clown sahen einander. Alice streckte ihre Hand aus. Ihre Finger waren noch ein paar Zentimeter vom Kragen des Clowns entfernt. Was du fühlst, das ist real. Dieser Clown ist nicht real. Wittgenstein ist nicht real. All das spielt sich nur in deinem Gehirn ab. Der Clown ist hinter deinen Augen. Nur noch ein paar Millimeter.
»Hey, Alice, was machst du da?«
Sie spürte ihr Herz im Hals schlagen. Mit einem letzten Ruck griffen ihre Finger an die Stelle, wo sich der Clown befand. Alles nur in deinem Gehirn … Der Stoff knisterte zwischen ihren Fingern. Ihre Finger glitten über den kahlen Schädel. Sie spürte die Kälte, die von ihm ausging.
»Die Zeitung?«
Alice zog ihre Hand zurück, als hätte sie etwas gebissen. Stephan Lehmko legte ihr die Hand auf die Schulter. Die Kälte unter ihrer Hand war plötzlich weg, der Clown war verschwunden. Die Zeitung war ein Teil des Allgäuer Blattes. Es war die heutige Ausgabe. Auf der ersten Seite war ein Bild der Kirche in Hintereck.
Tragisches Unglück. Kälte fordert neues Opfer.
Alice sah sich die aufgeschlagene Seite noch einmal an. An der Stelle, an der der Clown mit seinem Fingernagel gekratzt hatte, war das Papier zerrissen. Die genaue Todesursache steht nochnicht fest. Doch die Polizei vermutet, dass sich das Kind in der Nacht auf den zweiten Weihnachtstag verlaufen hat …
»Jedes Jahr sterben Menschen durch die Kälte«, sagte Alice, »das ist doch seltsam …«
»In Hintereck herrscht ein grausames Klima.«
»Das Klima hat das Mädchen vor der Kirche nicht umgebracht. Nicht der Winter, nicht die Berge …«
»Was willst du damit sagen?«
»Kennst du den Artikel über die Eistoten?«
»Es gab da mal was, so eine Geschichte über eine Verschwörung.«
»Keine Verschwörung. Jakob Mulder hieß der Journalist. Er hatte den Verdacht, dass hinter einigen Kältetoten in den letzten Jahren ein Serienmörder steckt. Er tötet seine Opfer, immer junge Mädchen, und lässt es dann so aussehen, als wären sie erfroren.«
»Ziemlich abgehoben. Das hätte die Polizei doch auch rausgefunden, wenn dem so wäre. Die sind schließlich nicht auf der Brennsuppen dahergeschwommen.«
»Die Polizei ging jedes Mal von einem tragischen Unfall aus. Es gab keine genauen Untersuchungen. Die Todesursache war immer Tod durch Erfrieren.«
»Über so lange Zeit kann selbst ein geschickter Serienmörder nicht wahllos morden. Nicht mit den heutigen Ermittlungsmethoden.«
»Es gab ja nie Ermittlungen.«
»Alice, ich fände deine Theorie ja recht spannend, wenn sie nicht so phantastisch wäre. Das klingt ja ganz wie der Plot in einem Buch von meinem Vater.«
»Das hier ist aber keine Geschichte, sondern Realität. Hier sterben wirklich Menschen.«
»Wenn alles wirklich geschieht, Alice, dann muss es dafürauch einen Beweis geben. Angenommen, ich glaube dir, und wir gehen zusammen zur Polizei. Was sollen wir denen erzählen? Die lachen uns doch aus.«
»Das werden sie nicht.«
»Amalia hat mir schon
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