Die Eistoten: Thriller (German Edition)
krank geworden, und ein Ersatzlehrer sprang ein. Der hatte nur eine Liste, auf der Emmas Name nicht stand. So vermisste sie niemand auf derHütte, und die Großeltern dachten, sie sei für zwei Tage beim Skilaufen.«
»Irgendwie muss sie aber von der Bushaltestelle, wo Emmas Großeltern sie abgesetzt haben, nach Hintereck gelangt sein? Sie ist doch nicht den ganzen Weg von Hindelang bis nach Hintereck gelaufen, hat sich dann an die Kirchenmauer gestellt und ist dort im Stehen steifgefroren.«
»Da ist ein großer weißer Fleck … das gebe ich zu.«
»… der auch niemandem beim Tod von Ina Zugl aufgefallen ist.«
»Das kann ich nicht sagen. Da war ich noch nicht bei der Kripo in Kempten.«
»Graben Sie die alten Fälle wieder aus.«
»Das ist nicht so einfach. Ich muss es begründen. Und weil es Arbeit bedeutet, muss ich es auch noch stichhaltig begründen. Die These mit dem Serienmörder reicht nicht. Serienmörder halten sich an Rituale, an wiederkehrende Verhaltensweisen, aber in den Fällen, die dein Großvater genannt hat, kann man bestenfalls eine auffallende Häufigkeit von Unfällen feststellen. Tod durch Erfrieren ist nichts Besonderes im Winter, vor allem nicht in einem so eisigen Nest wie Hintereck. Es gab auch nur zwei tote Mädchen in Hintereck. Ina Zugl und jetzt Emma Bratschneider. Die anderen kamen in den umliegenden Dörfern ums Leben, eine Tote fand man in Hindelang, eine andere in Sonthofen. Zugegeben, es ist alles in der Umgebung von Hintereck, aber die Tatsache, dass die Mädchen erfroren sind, reicht nicht aus, um von einem Serienmörder zu sprechen.«
»Dann hat Großvater auch nichts davon gesagt, dass all die toten Mädchen einen Tag vor Weihnachten starben und alle in diesen seltsamen Positionen?«
»Das ist niemandem aufgefallen, weil niemand von einemMord ausging, sondern von Unfällen. Wenn sie im Umkreis eines Ortes umgekommen wären, dann hätte man auf diese Idee kommen können, aber so hat niemand einen Zusammenhang hergestellt.«
»Der Journalist, Jakob Mulder, hat es …«
»Der Artikel liest sich wie eine Verschwörungstheorie. Ohne Quellen, und fragen kann man Mulder auch nicht mehr …«
»Er ist am Grünten abgestürzt … an einer Stelle, wo normalerweise kein Mensch abstürzt.«
»Er kann auch hinuntergesprungen sein. Mulder war nicht nur Journalist. Ich habe mir seine Akte angesehen. Glücksspiel, Erpressung, Zigarettenschmuggel … Er hatte Schulden bei dubiosen Geldverleihern. Sein Konto wies Beträge auf, die er unmöglich als Journalist verdient haben konnte. Dieser Mulder war nicht astrein. Aber es ist spät …«
»Was wird jetzt mit meinem Großvater geschehen?«
»Der Staatsanwalt wird Anklage gegen ihn erheben. Bis zur Beweisprüfung bleibt er in U-Haft. Der Richter entscheidet, ob er bis zur Verhandlung auf freien Fuß gesetzt wird.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Ich schaue, was ich machen kann.«
»Glauben Sie, dass es nur einen Mörder gibt, der all diese Morde begangen hat?«
»Unwahrscheinlich, aber ich verspreche dir, dass ich ein paar Hebel in Bewegung setzen werde.«
»Ich werde den Beweis bringen.«
»Aus kriminalistischer Sicht war hier kein Serienmörder am Werk.«
»Und doch ist es so«, erwiderte Alice, »ein Serienmörder, der scheinbar zufällig und willkürlich tötet, der keinem Schema folgt, der bisher keine Fehler begangen hat, der ohne Ziel vorgeht und deshalb all die Jahre unentdeckt geblieben ist. EinMörder, dessen Taten nicht als Morde erkennbar sind. Jemand, der seit Jahren perfekte Verbrechen begeht.«
»Heutzutage ist das unmöglich … Aber ich gehe der Sache nach. Es ist spät. Du solltest nach Hause gehen.«
Alice sperrte das Haus ihres Großvaters zu. Der Kommissar stieg in seinen Wagen. Er sah ihr noch nach, wie sie über den schmalen Weg zu ihrem Haus stieg. Unter ihr das dunkle Haus ihres Großvaters. Die Lichter des Wagens suchten sich wie tastende Finger einen Weg durch die verschneite Nacht.
31.
30. Dezember
Die Tage zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Silvester zogen sich normalerweise zähflüssig hin. Nach den Weihnachtsfeiertagen verdauten die Leute ihre fetten Braten und gaben unter der Sonne ein beschauliches Bild von Trübsinn. Alice stand recht früh auf. Der Himmel warf ein bläuliches Licht auf den Schnee. Am nördlichen Polarkreis ging die Sonne im Winter gar nicht auf. In Hintereck herrschte an diesem Tag ewiges Grau, Zwielicht, eine Mischung aus Schlaflosigkeit und Müdigkeit.
Von der
Weitere Kostenlose Bücher