Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Straße kam ein kratzendes Geräusch. Der Schneepflug schob die Straße frei und türmte die Schneeberge am Straßenrand noch höher. Alice wählte Toms Nummer. Noch immer niemand. Sie hinterließ keine Nachricht. Da stimmte etwas nicht. Ihr Vater und Amalia schliefen noch. Zum Glück hatte ihr Vater nichts von ihrem nächtlichen Ausflug gemerkt. Alice ging in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken, als sie ihren Vater am Tisch sitzen sah. Er hatte den Stuhl vom Tisch weggerückt und saß umgekehrt da, mit dem Kinn auf der Lehne.
»Wieso bist du schon auf, Papa?«
Er antwortete nicht, sondern starrte unentwegt auf die Mitte des Tisches. Doch da war nichts, nichts außer einem leeren Glas. Seine Augen waren feucht. Er hatte geweint. Es war das erste Mal, dass sie ihren Vater weinen sah. Selbst auf der Beerdigung ihrer Mutter hatte er nicht geweint. Er war wie versteinert. Großvater hatte geweint, so wie Männer in Hintereck eben weinten, ohne Tränen, mit künstlich zusammengepressten Lippen, nach Fassung ringend. Fast jeder aus dem Dorf, der ihre Mutter gekannt hatte, hatte ihr die Hand gedrückt. Mein herzliches Beileid. Sie hatte bis heute noch nicht verstanden, was Beileid bedeutete. Niemand konnte für den anderen leiden oder ihm den Schmerz abnehmen. Doch warum hatte ihr Vater nicht auf der Beerdigung ihrer Mutter geweint, aber jetzt nach der Verhaftung seines Vaters? Das gab keinen Sinn. Und auch wenn Alice die übrigen Jahre ihres Lebens damit verbrachte, die menschliche Natur zu erforschen, würde sie keine Erklärung dafür finden. Ein Satz, den sie sich merken musste für später, wenn sie ihr erstes Buch schreiben würde.
»Wir finden den wahren Mörder, Papa … Ich versprech’s dir.«
Mati Pokel starrte unbewegt auf den Tisch.
»Aber ich brauche deine Hilfe, Papa.«
Der Kopf ihres Vaters bewegte sich nach rechts und links, als wäre er einem unsichtbaren Verhör unterworfen. Ihr Vater starrte auf den Tisch und schwieg. Alice konnte sich keinen Reim auf das Schweigen ihres Vaters machen. Hatte er seinen eigenen Vater schon als Kindermörder abgeschrieben? Oder konnte er nicht fassen, dass man ihn verdächtigte? Nach dem gestrigen Wortwechsel nahm Alice an, dass ihr Vater der Polizei glaubte. Hieb- und stichfeste Indizien. Ihr Vater war Polizist, aber kein Ermittler, sonst wüsste er, dass Indizien an sichnoch gar nichts aussagten. Vielleicht wusste er auch nichts von dem anonymen Anrufer. Der Flusskrebs hatte mit ihm wahrscheinlich noch nicht gesprochen. Sie hatte sich im Kopf gerade ein paar wohlwollende Sätze zurückgelegt, um ihren Vater zu beruhigen, als das Telefon klingelte. Ihr Vater nahm das Gespräch an. Er sagte nur tonlos: »Ja, ich komme sofort.« Zwei Minuten später war sein Wagen aus der Einfahrt verschwunden.
Alice hatte keine Ahnung, was geschehen war. Sie wollte sich ein Glas Milch eingießen, und bemerkte, dass die Milch über Nacht sauer geworden war. Großvater sagte stets, die Milch kippe nur um, wenn es gewittrig sei. Doch in der letzten Nacht hatte es kein Gewitter gegeben. Sie griff nach dem Brot und stellte angeekelt fest, dass es verschimmelt war. Der 30. Dezember begann mit saurer Milch und Schimmelbrot, und es war auch der Tag, den Adelheid Grundinger nicht mehr sehen sollte.
Haas hatte die alte Frau auf ihrer Toilette gefunden, nachdem sie nicht geantwortet hatte, als er bei ihr an der Tür klingelte. Er war durch das offene Klofenster gestiegen. Adelheid Grundinger hatte offenbar beim Kacken einen Herzinfarkt erlitten. Die Leiche der alten Frau war so hart gefroren, dass sie die Rettungssanitäter nicht aus der schmalen Tür brachten. Ihr Vater redete mit den Rettungssanitätern, als Alice bei der alten Mühle eintraf. Sie musste noch verschlafen aussehen. Anton Haas sprach unentwegt, als hätte ihn der Tod selbst angelacht und er müsste jetzt um sein Leben reden. Alice nutzte einen Moment und ging zur Ladefläche des Rettungswagens. Die alte Grundinger lag seitwärts, noch immer in Kackposition. Warum hatten sie die Leiche nicht an Ort und Stelle gelassen, bis die Spurensicherung eingetroffen war?
Sie ist eigentlich zu alt, um ermordet zu werden, dachte Alice,denn in Grundingers Alter ist man sowieso schon so gut wie tot. Daher stellte keiner Fragen, höchstens wer für die Beerdigung der alten Frau aufkommen würde und ob sie ein Testament hinterlassen hatte. Dafür interessierte sich Haas. Alice prägte sich die Haltung der alten Frau ein. Sie war steinhart
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