Die Eistoten: Thriller (German Edition)
gefroren. Das Fenster hatte die ganze Nacht offen gestanden. Die Toilette war wie in den meisten alten Hütten ungeheizt, was dazu führte, dass man im Winter in der Küche das Wasser warm machte, um sein Geschäft hinunterzuspülen. Alice stellte sich vor, wie die Alte auf der Schüssel gesessen hatte, und wunderte sich, dass es keinem aufgefallen war. Adelheid Grundinger hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Augen waren weit offen – wie bei Ina Zugl, Emma Bratschneider und all den anderen Leichen. Wer verschränkte beim Kacken schon die Arme?
Ihr Vater würdigte sie nur eines flüchtigen Blickes, dann gab er eine Anweisung an einen Kollegen – den Auftrag, Alice auf höfliche Art zu verscheuchen.
»Ich muss meinen Vater sprechen.«
»Dein Vater hat mir gesagt, dass ich dich von hier wegbringen soll.«
»Das kann doch nicht wahr sein … Wie sollen wir dann den Mord aufklären?«
»Hier gibt es nichts aufzuklären. Die alte Grundinger ist an einem Herzinfarkt gestorben. Die Kälte macht älteren Menschen immer zu schaffen. Sie verengt die Gefäße. Die kleinste Anstrengung und eine Ader macht zu.«
»Hatten Sie schon einmal einen Herzinfarkt?«
»Nein, zum Glück noch nicht, aber du musst jetzt gehen, sonst macht mich dein Vater zur Schnecke.«
»Kennen Sie jemanden, der einen Infarkt hatte?«
»Ja, meine Schwester hatte einen Infarkt. Mit fünfunddreißig. Pille, wenig Bewegung, Zigaretten.«
»Das tut höllisch weh, oder?«
»Die ganze Brust, Schultern, Arme fühlten sich an, erzählte sie, als stieße jemand langsam ein Messer in sie hinein. Wenn wir nicht gleich gehandelt hätten, dann wäre sie heute nicht mehr.«
»Adelheid Grundinger lebte alleine, ihre Schreie hat niemand gehört.«
»Das ist tragisch«, sagte der Polizist in Uniform und blickte nervös zu Alices Vater.
»Ihre letzten Minuten waren schmerzvoll?«
»Sicherlich, schlimm, so zu sterben. Aber es gibt noch Schlimmeres.«
»Aber wie erklären Sie dann bitte, dass die alte Frau so entspannt auf der Kloschüssel saß, die Arme verschränkt hatte und ihre Augen offen waren. Wenn man Schmerzen hat, dann verengen sich die Augen. Die Muskeln ziehen sich zusammen. Schon gar nicht verschränkt man die Arme.«
Der Polizist antwortete nichts und nickte. In diesem Augenblick näherte sich ihr Vater. Er machte drei große Schritte, dann packte er Alice am Arm und zog sie hinter den Krankenwagen. Sein Griff war hart. Noch nie hatte ihr Vater sie so fest angefasst.
»Du tust mir weh!«
»Verschwinde jetzt, Alice, bevor ich die Geduld verliere.«
»Aber siehst du denn nicht, dass er wieder zugeschlagen hat? Adelheid Grundinger lebte zwar in einer anderen Welt, aber sie war nicht senil. Sie glaubte nur, dass ihr Mann Alois eines Tages aus dem Krieg zurückkehren würde. Vor ein paar Tagen meinte sie, ihn gesehen zu haben, ihren Alois. Aber nicht als Hundertjährigen, sondern als jüngeren Mann. Verstehst du? Sie hat den Mörder in der Nacht gesehen, wie er zu unserm Haus kam. Er hat versucht …«
»… versucht, dich umzubringen. Wie kann es auch anders sein? Alice im Mittelpunkt von allem. Warum sollte er …«
»Weil ich mit Tom am Weihnachtsvorabend die Leiche von Emma Bratschneider im Wald gesehen habe und weil wir die Einzigen waren, die wussten, dass das Mädchen nicht versteckt zwischen Kirche und Friedhofsmauer erfroren war, an derselben Stelle wie Ina Zugl. Er hat sie dorthin gebracht …«
»Du brauchst dich nicht künstlich interessant zu machen, Alice. Wenn ich dir zu wenig Aufmerksamkeit schenke, dann tut mir das leid. In der letzten Zeit …«
»Papa, bist du blind?«
Sie hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als die rechte Hand ihres Vaters klatschend in ihrem Gesicht landete. Ihre kalten Wangen brannten. Er hatte sie noch nie geschlagen. Sie taumelte zurück und hielt sich die Wange.
»Entschuldige, Alice …«
»Nein, ich entschuldige dich nicht.« Tränen der Wut liefen über ihre Wangen. Statt zuzuhören, schlug er zu. Dies war ihr eigener Vater – wie musste es dann erst unter Menschen sein, die sich gegenseitig gar nicht kannten. Plötzlich verstand sie, warum es Kriege, Völkermord, Finanzkrisen und mordende Menschen gab.
»Du willst Großvater gar nicht helfen«, schluchzte sie. Ihr Vater wollte sie in den Arm nehmen, doch Alice wich zurück, als ginge etwas Böses von ihrem Vater aus.
»Ich kann nur nicht mehr. Du hast so viel Phantasie, ich weiß gar nicht, woher das kommt. Aber Lügen machen
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