Die Elben - 02 - Die Könige der Elben
des Heilungsprozesses seiner in der Schlacht an der Aratanischen Mauer erlittenen Verwundungen nicht in der Lage war, die Herrschaft selbst auszuüben – was in Zukunft wohl nicht wieder vorkommen wird. Wie auch immer, ich sehe mich genötigt, Euch in aller Offenheit zu sagen, dass Ihr Eurem Sohn – mag er nun ein zwanzigjähriger Kindskopf oder ein hundertjähriger Jüngling sein – keinesfalls hättet gestatten dürfen, eigenmächtig nach Osten zu ziehen und neue Siedlungen zu gründen.«
»Und weshalb nicht?«, fragte Isidorn, dessen Stirn sich deutlich umwölkte. Der Herzog von Nordbergen, der seine Provinz nach innen seit Langem vollkommen autonom regierte, war es offenbar nicht mehr gewohnt, dass ihm jemand Vorschriften machte – und sei es auch der Befehlshaber des elbischen Heeres, der quasi den Rang eines Vizekönigs bekleidete und dem König in allen wichtigen Fragen von frühster Jugend an als väterlicher Freund und Mentor zur Seite gestanden hatte.
»Wir dürfen unsere Kräfte nicht weiter überdehnen«, erklärte Sandrilas. »Das Gegenteil ist der Fall: Wir müssen sie konzentrieren! Schon die Besiedlung von Elbara und Nuranien war im Nachhinein betrachtet ein Fehler.«
»So hättet Ihr die Schlacht an der Aratanischen Mauer allen Ernstes lieber auf dem Boden von Nieder-Elbiana ausgefochten statt auf der aratanischen Ebene?«, wunderte sich Herzog Branagorn, der über die Worte des Prinzen innerlich nur den Kopf schütteln konnte.
Aber Prinz Sandrilas war bekannt dafür, dass er offen und ohne Rücksicht seine Meinung zu sagen pflegte, auch gegenüber dem König, der ihn gerade deshalb von jeher als Ratgeber und Korrektiv – und bisweilen auch als schwarzseherisches, warnendes Menetekel – schätzte.
»Wir hätten diese Schlacht deshalb nicht unbedingt auf elbianitischem Gebiet austragen müssen«, korrigierte Prinz Sandrilas den Herzog von Elbara. »Der Nur hätte eine natürliche, tausend Meilen lange Grenze dargestellt, die für das Heer der Rhagar nicht so ohne Weiteres zu überwinden gewesen wäre. Ihre karanorischen Riesenechsen hätten die gigantischen Katapulte unmöglich über den Fluss ziehen können, zumal dieser im Herbst und Frühling so stark anschwillt, dass man ihn für einen Meeres arm halten könnte und kaum das andere Ufer erblickt.«
»Die Rhagar haben auch das Meer zwischen den Sandlanden und dem Süden des Zwischenlandes zu überqueren gewusst«, gab Keandir zu bedenken. »Aber es lohnt sich nicht, über getroffene Entscheidungen zu debattieren. Ihren Konsequenzen werden wir ohnehin nicht entgehen, und daher ist es fruchtbarer, sich über die gegenwärtige Lage und unsere Vorstellung von der Zukunft zu unterhalten.«
»Worin ich Euch nur zustimmen kann«, erklärte Branagorn.
Der Blick des Elbenkönigs ruhte einige Augenblicke lang nachdenklich auf dem Herzog von Elbara. Er hatte sich ohne Zweifel als äußerst fähiger Regent seiner Provinz erwiesen, aber es war nicht ausschließlich das Vertrauen in die Fähigkeiten des seinerzeit noch recht jungen Elben gewesen, weshalb ihn König Keandir zum Herzog erhoben hatte. Der eigentliche Grund war der Wunsch gewesen, ihn nicht in seiner Nähe zu haben. Branagorn war Zeuge von Keandirs Begegnung mit dem Augenlosen Seher gewesen. Mehrfach hatte er miterlebt, wie die Kraft des Bösen Besitz von ihm –
Keandir – ergriffen hatte, und seitdem herrschte ein unausgesprochenes, uneingestandenes Misstrauen zwischen ihnen. Branagorn hatte es unterschwellig immer für möglich gehalten, dass die dunklen Kräfte, die seinerzeit in den König gefahren waren, erneut die Herrschaft über ihn zu erringen vermochten; auch die Tatsache, dass der Augenlose Seher seinerzeit erschlagen worden war, beruhigte ihn in dieser Hinsicht kaum.
In Branagorns Gegenwart fühlte sich Keandir daher stets beobachtet. Er hatte ständig das Gefühl, durch den Herzog von Elbara einer prüfenden Musterung unterworfen zu werden, die jede seiner Handlungen, jede Regung in seinem Gesicht – und vor allem jede Veränderung seiner Augen! – als Indiz dafür nahm, dass vielleicht das Böse erneut die Macht über den König aller Elben ergriffen hatte. Wenn sie sich trafen, etwa aus Anlass des Ankunftsfests oder zu dringend notwendigen Beratungen, herrschte stets eine gewisse Verlegenheit zwischen ihnen, die von beiden als solche empfunden, aber nie zum Thema eines Gesprächs zwischen ihnen gemacht wurde.
Keandir traf eine Entscheidung. Gerade noch hatte er
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