Die Elben - 02 - Die Könige der Elben
noch immer, war eine offene Wunde, und nie würde sie heilen. Er hatte das Gefühl, mit den Elbensteinen auch die Zukunft seines Volkes und die Herrschaft über das Schicksal verloren zu haben.
In den letzten hundertzwanzig Jahren hatte sich die Kunde vom Verlust der Elbensteine nicht nur in ganz Elbiana und den angrenzenden Elbenherzogtümern verbreitet, sondern auch in den Ländern der Menschen. Nicht nur das – im Laufe der Zeit war daraus eine mit farbigen Details ausgeschmückte Geschichte geworden, die sich die Rhagar erzählten, um sich gegenseitig unter Beweis zu stellen, wie verwundbar die Elben waren und dass die Überlegenheit der ehemals als Lichtgötter verehrten Wesen keineswegs unüberwindbar war.
Die Schlacht an der Aratanischen Mauer hatte keine Seite wirklich für sich entscheiden können. Der Kampf hatte beiden Seiten einen hohen Blutzoll abverlangt und sie erheblich geschwächt. Aber mit dem Verlust des Symbols der elbischen Herrschaft und der Macht des Elbenkönigs, sein Schicksal selbst zu schmieden, hatten die Rhagar den Elben auf einer anderen Ebene durchaus eine sehr empfindliche Niederlage beigebracht. Auf einer Ebene, die das Lichtvolk bisher stets als seine ureigene Domäne angesehen hatte – der geistigen. Die Verunsicherung, die durch jenes Ereignis vor hundertzwanzig Jahren in die Köpfe der Elben eingepflanzt worden war, konnte gar nicht überschätzt werden. Es war ein Gift, das schleichend zu wirken begann, dafür aber umso verheerender, denn es war im Begriff, den Elben das Bewusstsein der eigenen Überlegenheit zu nehmen.
Die Furcht kehrte in ihre Herzen zurück. Furcht gepaart mit Unentschlossenheit, wie sie seit jenen Tagen so nicht mehr unter den Elben verbreitet war, da sie die Küsten des Zwischenlandes erreicht hatten. Ihre alte Heimat Athranor hatten sie verlassen auf der Suche nach den Gestaden der Erfüllten Hoffnung. Sie hatten das zeitlose Nebelmeer durchsegelt und beinahe jeglichen Bezug zur Realität und dem Leben selbst verloren.
Seit dem Verlust der Elbensteine gab es wieder mehr Fälle von Lebensüberdruss, jener tödlichen Erkrankung des Gemüts, die die Betroffenen jeden Mut und jede Initiative verlieren ließ, bevor sie schließlich den eigenen Tod herbeiführten.
Keandir löste sich von Ruwen. Er schlug die aus feinem Elbenzwirn gewebte Decke zur Seite, erhob sich und trat an die Wand, wo sein Schwert hing. Er nahm die Klinge an sich, zog sie aus der Scheide und blickte auf die deutlich sichtbare Bruchstelle. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Erinnerungen an den Kampf gegen den Furchtbringer, der aus dem See des Schicksals gestiegen war und den er mit dieser Waffe besiegt hatte. Dabei war die Klinge geborsten, aber sie war wieder zusammengeschweißt worden von der Magie des Augenlosen Sehers, und seitdem hieß das Schwert nicht mehr Trolltöter, sondern Schicksalsbezwinger.
»Du bist in Gedanken auf Naranduin«, stellte Ruwen fest, und Keandir hörte ihre Stimme wieder wie aus weiter Ferne.
Seit seiner Verwundung in der Schlacht an der Aratanischen Mauer kam es häufiger vor, dass Keandir über längere Perioden hinweg geistig entrückte. Ruwen war daher nicht irritiert, als er ihr nicht sofort antwortete, sondern sein Blick noch immer sinnend auf der Klinge ruhte. Er legte die kunstvoll verzierte Scheide auf einen Tisch und strich mit dem Zeigefinger der rechten Hand über die Bruchstelle.
Naranduin, die Insel des Augenlosen Sehers…
Das erste Land, das die Elben während ihrer Reise betreten hatten, nachdem sie ins zeitlose Nebelmeer eingedrungen waren. Ein von ungeheuer alten Kreaturen des Bösen besiedeltes Eiland, erfüllt von einer dunklen Magie, und der äonenlange Verbannungsort eines augenlosen Wesens, das sich selbst als Angehöriger des Volkes der sechs Finger bezeichnet hatte. Ein magiebegabtes Ungeheuer, das einst zusammen mit seinem Bruder Xaror den gesamten zwischenländischen Kontinent beherrscht hatte, dem die Insel vorgelagert war, und dann von diesem entmachtetet und nach Naranduin verbannt worden war. Xaror hatte offenbar die Alleinherrschaft ausüben wollen.
Was aus seinem Reich geworden war und den Kreaturen, die es bevölkert hatten, wusste niemand. Die Trorks genannten Bewohner des Wilderlandes, das jenseits des östlich von Elbiana gelegenen Waldreichs zu finden war, hatten wie der Augenlose Seher sechs Finger. Aber ob das mehr als ein Indiz für seine lockere Verwandtschaft mit Xarors Volk war, hatten die Elben bisher nicht
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