Die Elementare von Calderon
dahin bin ich ein Welpe wie jeder andere auch. Bei uns ist es eben anders als bei euch, Aleraner.«
Tavi starrte sie an. »Trotzdem bist du ein Mädchen .«
Kitai verdrehte die Augen. »Du wirst es schon verkraften, Taljunge.« Sie wollte aufstehen und aus dem Wasser steigen.
»Warte«, forderte Tavi sie auf. Er versperrte ihr mit der Hand den Weg.
»Was?«
»Warte, bis sie verschwunden sind. Wenn du dich jetzt zeigst, werden sie dich bemerken.«
»Aber ich habe doch die kalte Decke.«
»Und wenn du vor dem Feuer entlanggehst, wirst du das einzige Kalte sein«, wandte Tavi ein. »Bleib hier und verhalt dich still. Wenn das Feuer abgebrannt ist, werden sie loslaufen und nach uns suchen, und dann haben wir eine Chance.«
Kitai runzelte die Stirn, ließ sich aber wieder ins Wasser sinken. »Eine Chance, um was zu tun?«
Tavi schluckte. »Zu dem großen Baum zu gehen.«
»Sei nicht dumm«, entgegnete Kitai, obwohl sie dabei widerwillig klang. »Die Hüter sind geweckt. Niemand hat es je geschafft, den Baum zu erreichen und lebend zurückzukehren, wenn die Hüter wach sind. Wir würden sterben.«
»Vergiss nicht, ich würde so oder so sterben.« Er überlegte. »Aber eigentlich ist es mir recht, wenn du hierbleibst. Ich möchte ein Mädchen schließlich nicht in Gefahr bringen.«
Das Maratmädchen bedachte ihn mit einem bösen Blick. »Als wäre ich jetzt weniger in der Lage, dich zu beschützen, als noch vor ein paar Augenblicken.«
Tavi schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«
»Und was dann?«
Er zuckte unter der Decke mit den Schultern. »Ich kann es nicht erklären. Wir... wir behandeln unsere Frauen eben einfach anders als die Männer.«
»Das ist dumm«, stellte Kitai fest. »Genauso dumm wie der Versuch, das Gericht fortzuführen. Wenn keiner von uns mit dem Segen zurückkehrt, ist kein Urteil gefallen. Dann warten sie bis zum nächsten Mond und wiederholen es. Bis dahin bist du Dorogas Gast, Taljunge. Dir wird nichts geschehen.«
Tavi runzelte die Stirn. Einerseits hätte er jetzt vor Erleichterung beinahe gejauchzt. Er könnte diese bizarre Klamm mit ihren fremdartigen Wesen verlassen und in die Welt oben zurückkehren. Die war ihm zwar auch nicht gerade freundlich gesonnen, doch konnte er dort leben, bis das Gericht wiederholt wurde.
Andererseits würde der neue Mond erst Wochen später beginnen. Die Marat wollten aber lange vorher Kaserna und die Wehrhöfe des Tals angreifen, auch sein eigenes Zuhause. Einen Moment lang stellte er sich vor, wie er nach Bernardhof heimkehrte und es verlassen vorfand, in den überwältigenden Gestank von Verwesung gehüllt; wie er das Tor aufstieß und eine Wolke von Aaskrähen von den Menschen aufstob, die er schon kannte, so lange er lebte, und die nun tot und bis zur Unkenntlichkeit entstellt auf der kalten Erde lagen. Seine Tante. Sein Onkel. Frederic. Beritte, die alte Biette und so viele andere.
Seine Beine begannen zu zittern - nicht wegen der Kälte, sondern weil er plötzlich begriff, dass er sie nicht einfach im Stich
lassen durfte. Wenn er, indem er mit diesem blöden Pilz nach oben zurückkletterte, die Überlebenschancen für seine Familie verbessern konnte, dann musste er alles tun, was in seiner Macht stand, um dieses Gewächs zu holen. Er konnte nicht einfach aufgeben, nicht weglaufen, selbst wenn er sich in tödliche Gefahr begeben musste.
Vielleicht würde er wie diese Krähe enden, im Kroatsch eingeschlossen und bei lebendigem Leibe verzehrt. Kurz dachte er an die unheimlichen Augen der Hüter. Es waren so viele. Jetzt hatten sie sich um das langsam niederbrennende Feuer versammelt und krabbelten sinnlos in alle Richtungen. Ihre lederartigen Panzer knirschten leise, wenn diese Tiere sich aneinanderrieben. Und sie stanken. Als er nun begriff, dass er sie riechen konnte, stellten sich ihm wieder die Nackenhaare auf.
»Ich muss es versuchen«, sagte Tavi.
»Du wirst dabei draufgehen«, erwiderte Kitai schlicht. »Das schafft keiner.«
Schulterzuckend fügte sie hinzu: »Aber es ist ja dein Leben, das du wegwirfst. Sieh dich an. Du zitterst so heftig, dass du mit den Zähnen klapperst.« Ihre eigenartig schillernden Augen hingegen drückten Neugier aus. Sie sprach die Frage nicht aus, aber Tavi hörte sie gewissermaßen im Kopf: Warum?
Er holte schaudernd Luft. »Das spielt keine Rolle. Es spielt keine Rolle, wie viel Angst ich habe. Ich muss diesen Pilz holen und wieder nach oben steigen. Das ist das Einzige, was ich für meine
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