Die Elfen 04 - Die Elfenkönigin
Rentiers. Es schien aus dem Nichts hierhergekommen zu sein.
Ihr Halbbruder blickte zum dunklen Himmel hinauf. Schneeflocken tanzten im Wind.
Kadlin versuchte in den Spuren der Trolle zu lesen. Sie hatten das tote Rentier nicht angerührt.
»Es hat ihnen Angst gemacht«, sagte Melvyn.
Mir macht es auch Angst, dachte Kadlin. Aber sie schwieg. Auch sie blickte in den Himmel. Lag dort die Antwort? Etwas regte sich in ihr. Erschrocken griff sie nach ihrem Bauch. Sie spürte eine Berührung. Einen Tritt? Es war das erste Mal… So lange hatte sie darauf gewartet. Hatte in sich hineingelauscht und mit ihren Ängsten gekämpft. Und ausgerechnet jetzt regte es sich. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. Sie hatte Melvyn nichts davon gesagt. Sie war besessen von der Idee, Alfadas zurückzuholen. Ihren Vater, den das Schicksal ihr lange vor der Zeit geraubt hatte. Sie musste es schaffen. Entschlossen blickte sie nach Norden. »Gehen wir!« Sie wollte nicht wissen, wie das Rentier gestorben war. Wollte nicht darüber nachdenken, was außer Trollen noch in den Bergen lauern mochte. Sie hielt die Hand auf dem Bauch und kämpfte sich durch den Schnee, ohne noch einmal zu dem Kadaver zurückzublicken.
SPURENLESER
Skanga betastete das kleine Klümpchen, das sie am Boden gefunden hatte. War es ein Finger oder ein Zeh? Auf jeden Fall gehörte es zu einem Kobold. Sie roch daran und dachte, dass sie schon viel zu lange nichts mehr gegessen hatte. Sie konnte die Angst spüren, das letzte starke Gefühl, das den ehemaligen Besitzer des Körperglieds durchfahren hatte. Angst tränkte den ganzen Saal. Sie war mit dem Blut in die hölzernen Bodendielen gesickert. Welch ein Massaker! Die Leichen waren leider schon fortgeschafft, aber das Blut hatte noch niemand abgewaschen. Sie spürte es mit all ihren Sinnen, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Die Ratskammer war ein Ort des Schreckens geworden. Es war nicht nur das Entsetzen der Gemordeten. Auch der Schrecken derjenigen, die später hier gewesen waren und das Blutbad gesehen hatten, hatte die Aura dieses Saals auf ewig verändert. Wer immer hier in Zukunft zusammenkam, würde eine Beklommenheit verspüren, selbst wenn er nicht um die unselige Geschichte der Kammer wusste. Vermutlich wäre es das Klügste, das ganze Haus niederzubrennen.
»Das Blut ist sogar bis an die Decke gespritzt«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.
In der Stimme ihrer Schülerin schwang Ehrfurcht. Sie mochte es, Gefangene zu befragen, und war dabei alles andere als zimperlich. Vor allem, wenn Elfen ihre Opfer waren. Es gehörte einiges dazu, sie zu beeindrucken.
»Wie viele waren es?« Skanga legte den Kopf in den Nacken. Die Blutspuren an der Decke waren nicht ausgeprägt genug. Sie konnte sie mit ihren Sinnen nicht wahrnehmen.
»Nur zwei«, sagte Madra, der Überlebende. Eigentlich hätte auch er hier unter den Toten liegen sollen. Dass Gharub ihn mit einem schwachsinnigen Auftrag zu einem Außenposten vor der Stadt geschickt hatte, hatte ihm das Leben gerettet.
»Wie kommst du darauf?«, herrschte Birga ihn an. »Nicht einmal Ollowain hätte so etwas vermocht.«
»Die Stiefelabdrücke im Blut. Sie unterscheiden sich deutlich von den Spuren der Trolle und Kobolde. Die beiden hatten unterschiedlich große Füße. Das Weibchen bewegte sich mit der Gewandtheit einer Tänzerin. Ihr Gefährte war unbeholfener …« Skanga hörte die hölzernen Dielen knarren. Madra ging auf und ab, und nicht einmal die nichtsnutzige Birga wagte es, ihn zu stören. Endlich verharrte er wieder. »Der Krieger war nur anfangs zögerlich. Dann stand er dem Weibchen in nichts mehr nach.« »Woran siehst du, dass es ein Krieger und ein Weibchen waren?«, fragte Birga. »Ich vermute es nur. Die beiden gefangenen Elfen aus dem Kerker haben sich gewaltsam befreit. Ein Elf und eine Elfe. Das Weibchen hieß Nandalee. Der Krieger hat seinen Namen, glaube ich, nicht genannt. Die Stiefelabdrücke passen zu ihnen. Das Weibchen war klein und zierlich. Und auch einer der Mörder hier trug sehr schmale Stiefel.«
Skanga tastete nach dem Albenstein, den sie unter ihren Amuletten verborgen trug. Die glatte Oberfläche zu spüren, beruhigte sie. Es war kein Zauber in dieser Kammer gewirkt worden. Die beiden Elfen hatten keine Magie nötig gehabt, um zu siegen. »Beschreibe mir einmal das Weibchen, Madra.«
Der Trollkrieger war ein guter Beobachter. Selbst an den Geruch der Elfe konnte er sich erinnern. Bald war Skanga klar, wen dieser dämliche Kobold
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