Die Elfen 04 - Die Elfenkönigin
selbstsicheres Lächeln verloren. Unruhig sah er sich um. Er hatte ihr zugeredet, dass es möglich war, Alfadas zurückzuholen. In ihrer Hütte hatte alles ganz einfach geklungen.
Alle Bäume auf der Insel waren von einem dicken Eispanzer überzogen. Es konnt keinen Zweifel daran geben, dass die Insel tatsächlich in den Fluten des See versunken war.
»Lass uns hinuntergehen!«
Er hielt sie am Arm fest. »Nein. Wir sind zu spät. Es hat keinen Sinn. Und ich habe das Gefühl, wir sind nicht allein.«
»Was hatte die ganze Reise für einen Sinn, wenn wir nicht einmal nachsehen, ob er noch dort unten ist! Ich werde gehen.«
»Glaubst du wirklich, dass sie das Wasser abgelassen und Felsen vor dem Grab zu Seite geräumt haben, um ihn dann dort zu lassen?«
»Wir werden es nur wissen, wenn wir hinuntergehen!«
»Bitte …«
Es war das erste Mal, dass er sie um etwas bat. Sie drehte sich halb zu ihm um. »Bitte, Kadlin. Du weißt doch, wie sie tote Helden ehren. Willst du es wirklich sehen? Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn kanntest.« Seine Stimme stockte. »Geh nicht dort hinab!«
Kadlin riss sich los. »Ich bin nicht den weiten Weg gegangen, um am Ende immer noch nicht zu wissen …«
»Er ist tot! Was gibt es da zu wissen?«
Sie atmete schwer. Melvyn hatte Recht. Das ließ sich nicht von der Hand weisen. Allein hier zu sein, war schon verrückt. Sie betrachtete die Insel. Der kleine See, das Tal… Alles war verlassen. Es war unübersehbar, dass die Trolle das Grab schon vor einiger Zeit geöffnet hatten.
Kadlin entwand sich dem Griff ihres Bruders. »Ich will nur von ihm Abschied nehmen. Es wird nicht lange dauern.«
Melvyn versuchte nicht mehr sie aufzuhalten. Mühsam kämpfte sie sich Schritt um Schritt durch den hohen Schnee. Gestern und auch heute hatte es nicht geschneit. Man würde Spuren sehen, wenn dies eine Falle war. Trollspuren im Schnee waren einfach unübersehbar.
Vorsichtig tastend trat sie auf das Eis des kleinen Sees. Es war hart wie Stein gefroren. Plötzlich überfiel sie Unsicherheit. Sie blickte den Hang hinauf. Melvyn war verschwunden. Mistkerl! Er wollte ihr wohl Angst machen! Aber sie war kein kleines Mädchen mehr.
Entschlossener ging sie weiter. Sie umrundete eine Gruppe flacher, eingeschneiter Uferfelsen. Dann sah sie den Höhleneingang vor sich. Ein Spalier aus Eiszapfen hing vor ihm hinab. Sie musste sich tief ducken, um darunter hindurchzuschlüpfen. Das Licht, das sich in den Eiszapfen brach, zauberte grellweiße Flecken auf die dunklen Höhlenwände. Die Kälte hier drinnen raubte ihr schier den Atem. Sie schob sich den Schal über die Lippen. Ihre Gesichtshaut fühlte sich straff an. Sie prickelte. Draußen heulte der Wind über den Klippen der Insel und sang in den Wipfeln der erfrorenen Bäume. Die Eiszapfen am Höhleneingang erzitterten. Die Lichtflecke tanzten. Einer riss ein Gesicht aus der Dunkelheit. Eine von Schreck verzerrte Grimasse. Der Körper des Toten war seltsam verkrümmt.
Kadlin verharrte. Die tanzenden Lichter zeigten nun all die Toten. Sie erinnerte sich an Lambis Erzählungen. Nicht nur Alfadas lag hier bestattet. Etwa zwanzig andere Krieger hatten an diesem Ort ebenfalls ihre letzte Ruhe gefunden.
Die junge Königin atmete schwer. Einige der Männer erkannte sie wieder, auch wenn der Frost ihre Gesichter dunkel gefärbt hatte. Die Toten erinnerten sie daran, warum sie gekommen war. Es ging nicht allein um ihren Vater. Es ging um ihre Schuld. Nach der Schlacht an der Nachtzinne, nachdem Björn und Kalf gefallen waren, war sie feige geflohen. Statt mit den anderen durch die Berge zurück nach Firnstayn zu gehen, war sie gemeinsam mit dem Baumeister Gundaher nach Albenmark gesegelt. Damals hatte sie nicht ahnen können, welche Schrecken die anderen erwarteten. Es schien so, als hätten sie die Trolle besiegt. Das war die Wahrheit! Aber die Wahrheit konnte ihre Schuldgefühle nicht auslöschen. Sie war es den Toten, die für ihren Vater und ihren Bruder Ulric gekämpft hatten, schuldig, diesen Weg zu gehen. Allein! Deshalb hatte sie Lambi nicht mitnehmen können und auch keinen anderen! Sie hatten diesen Weg schon gemacht! Die Gedanken daran hatten den ganzen Winter über in ihr gegärt. Und als Melvyn gekommen war, hatten sie gemeinsam den Entschluss gefasst, in die Berge zu gehen. Melvyn hatte seinen Vater Alfadas nie kennengelernt. Ihr Schicksal war sehr ähnlich. Auch sie hatte nach dem Elfenwinter ihr wirkliches Zuhause nie wiedergesehen.
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