Die elfte Geißel
heran. Überdeckt von dem Gemüffel der Metro-Gänge roch sie darin den beißenden Gestank von Angstschweiß. Schwere, schleppende Schritte, die typisch waren für ihren Chef, kamen auf sie zu.
Jean-François Rilk, ein eingefleischter Junggeselle und bekennender Frauenhasser, der den Spitznamen »Bär« trug, gehörte zu den letzten Urgesteinen der Staatspolizei; ein Kriminaler aus einer anderen Zeit, ein harter Knochen mit einer feinen Spürnase, für viele eine lebende Legende. Er hatte im Oktober seinen achtundfünfzigsten Geburtstag gefeiert, aber das Alter hatte diesem Energiebündel nichts anhaben können. Seine athletische Figur, die durch die Gaumenlust ein wenig angeschwollen war, verlieh ihm das Aussehen eines in die Jahre gekommenen Boxers, der sich an den Ring klammerte. Seine Hände glichen knorrigen, übergroßen Pranken, die imstande waren, ein Genick wie einen dünnen Zweig zu brechen. Bei der spektakulären Schießerei im Bahnhof von Lyon 1992 verwundet, waren die Muskeln seines rechten Oberschenkels verkümmert, was ihn dazu zwang, sein Gewicht auf das rechte Bein zu verlagern – eine unverwechselbare Art des Gehens, die ihm in Verbindung mit seinen brutalen Methoden seinen Spitznamen eingebracht hatte.
Mit zwei Bediensteten der RATP – der Pariser Verkehrsbetriebe – im Schlepptau traf er am Eingang der Station ein. Ein junger Mann im gleichen Alter wie Pothin wankte, während er sich diskret auf seinen Kollegen stützte.
»Nun? Worum geht’s?«, fragte Garcia und drückte dabei fest die Hand des Kommissars.
»Wir müssen die Ankunft des Staatsanwalts abwarten. Wir beeilen uns – ich will nicht den ganzen Tag hier verbringen. Paul, Sie kommen mit mir. Pothin, Sie helfen diesen Herren bei Verfahrensfragen und kümmern sich um die Zeugenaussagen. Gehen Sie behutsam vor, und fordern Sie von der Zentrale ein psychologisches Kriseninterventionsteam an.«
Er deutete auf eine Gruppe offenbar unter Schock stehender Personen, von denen die meisten am Boden saßen und sich gegen die Wand lehnten. Blankes Entsetzen stand auf ihren Gesichtern. Blandine lief ein Schauder über den Rücken. Diese Sache war vielleicht doch ernster, als sie geglaubt hatte. Ihr fiel ein dunkler Urinfleck in der Hose des Bediensteten der RATP auf. Er zitterte noch immer.
Kommissar Rilk hielt ihr die Liste mit den Namen der anwesenden Personen hin.
»Ich war da, als es passiert ist. Sie nehmen meine Aussage auf, sobald wir den vorläufigen Bericht fertiggestellt haben.«
Er wandte sich Garcia zu und erwähnte den Bahnsteig der Linie 3a. Blandine zögerte einige Sekunden und sah ihnen nach, wie sie sich entfernten. Ein seltsames Gefühl schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie ließ ihren Blick abermals über die Gesichter gleiten – ihr Herz schlug jetzt noch schneller.
»Herr Kommissar?«
»Was ist?«
Sie machte einen Schritt vor.
»Kann ich wenigstens sehen, was passiert ist?«
Kommissar Rilk schaute sie fest an.
»Pothin, ich glaube nicht, dass Sie die Nerven dafür haben.«
»Lassen Sie mich das selbst beurteilen, Herr Kommissar.«
»Mist! Wenn Sie unbedingt wollen und der Anblick von blutigem Fleisch Ihnen nicht den Magen umdreht, bitte!«, sagte er nickend.
»Mein Magen ist robust.«
»Garcia, Sie kommen mit mir. Wir müssen uns vergewissern, dass sich niemand mehr in der Station aufhält.«
An einer Weggabelung stehen bleibend, deutete Jean-François Rilk in einen Gang.
»Sie gehen geradeaus weiter. Schauen Sie sich an, was Sie sehen wollen, und nehmen Sie die Zeugenaussagen auf, aber fix! Noch Fragen?«
Blandine kam nicht mehr dazu zu antworten. Der Kommissar stapfte schon mit Paul im Schlepptau davon.
6
Paris,
Metrostation Porte des Lilas,
Mordkommission
Sie drang in die Eingeweide der Stadt vor. Die schimmernden Werbeplakate verzerrten die Perspektive und verwandelten die Station in ein organisches Labyrinth. Unmerklich verkrampften sich ihre Muskeln.
Was erwartete sie dort unten?
Auf dem Bahnsteig schlug ihr ein süßsaurer Geruch entgegen. Unter dem gekachelten Gewölbe herrschte eine drückende Stille.
Blandine starrte in den Tunnel, geblendet von dem krassen Gegensatz zwischen dem tiefen Schwarz und dem aggressiven Weiß der Scheinwerfer. Sie ging weiter, wobei sie die Szenerie genau in Augenschein nahm.
Ein gelb erleuchteter leerer U-Bahn-Zug war nicht ganz aus der Tunnelröhre herausgefahren. Zwei Waggons blieben von der Finsternis verschluckt. Blandine nahm keine Notiz von dem
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