Die elfte Geißel
dabei, wie er sich an der Leiche des jüngeren Mädchens zu schaffen machte. Bei dem stark verrenkten Nacken brauchte man nicht viel Fantasie.
»Genickbruch?«, fragte sie.
»Fünf Wirbel sind gebrochen. Die Wirbelsäule ist total zertrümmert«, antwortete der Rechtsmediziner. »Die U-Bahn muss schnell gefahren sein. Jedenfalls musste dieses Mädchen nicht leiden. Die Versteifung der Muskeln und die Farbe der Blutergüsse deuten darauf hin, dass zuerst der rechte Arm getroffen wurde.«
»Weiter nichts?«
»Mehrere Brüche des Beckens, der Arme und Beine. Die Wunden sind offensichtlich auf den Sturz und den Aufschlag zurückzuführen. Ohne Obduktion lässt sich nicht mehr sagen.«
Mit ihrem Handy machte Blandine eine Reihe von Fotos, angetrieben von der seltsamen Ahnung, dass hier etwas nicht stimmte. Sie näherte sich ihrem Vorgesetzten und unterbrach ihn in seinem Gespräch.
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar, hat außer Ihnen sonst noch jemand die Körper berührt?«
»Was für eine Frage, natürlich nicht! Weshalb fragen Sie mich das?«
Sie wusste es nicht.
Suizid.
Krank.
Verrückt.
Diese Wörter kehrten oft wieder – sie bestätigten die Darstellung des Kommissars. Keiner derjenigen, die ungewollt zu Augenzeugen wurden, hatte die jungen Mädchen vor ihrem Sprung beachtet. Die einzige Ausnahme: Alle hatten einen Schrei gehört, der von dem Kreischen der Bremsen verschluckt wurde. Blandine teilte ihre Visitenkarte aus und las ihre Aufzeichnungen noch einmal durch, während sie einen Schluck Kaffee trank.
Der Vergleich der Zeugenaussagen ergab nichts Verwertbares, und es blieb nur noch eine Person zu befragen. Der Tod der beiden Mädchen würde in den Medien als tragischer Unglücksfall dargestellt werden.
Selbstmord.
Das Wort passte perfekt. Dennoch verschaffte es Blandine nicht die Befriedigung einer unwiderlegbaren Schlussfolgerung. Sie näherte sich einem etwa dreißigjährigen Mann, der in den Armen eines von der Zentrale entsandten Psychologen leise weinte. Der Psychologe bedeutete ihr, sie könne mit der Vernehmung beginnen. Mitfühlend legte sie eine Hand auf die Schulter des Zugfahrers.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«
»Nein, danke. Ich will nur zum Ende kommen«, stammelte er mit müder Stimme.
»Könnten Sie mir schildern, was passiert ist?«
»Ich habe meinen Dienst um sechs Uhr heute Morgen angetreten. Normalerweise ist es eine eher ruhige Linie. Ich kam von der Station Mairie des Lilas. Ich habe ... ich habe die Geschwindigkeit überprüft, als ich in den Bahnhof eingefahren bin. Ich habe die Anzeige etwa ein, zwei Sekunden betrachtet, als plötzlich Blut spritzte. Ich habe sie nicht fallen gesehen. Nur das Blut.«
»Erinnern Sie sich noch an etwas anderes vor dem Unfall?«
»Ich glaube, da war ein Mann, der mit der Größeren sprach. Aber ich bin mir nicht sicher.«
»Ein Mann?«
Blandine bekam nur eine ganz grobe Personenbeschreibung – die Figur, sonst nichts. Sie brach die Befragung ab, da der Fahrer wiederum mit den Tränen kämpfte.
Sie ging durch die langen Gänge, über die gewundenen Treppen zurück nach draußen, und das Tageslicht belebte sie. Sie nahm eine Zigarette von Paul, inhalierte tief und hielt den Rauch so lange wie möglich in ihrer Lunge. Die Straßen erwachten sanft unter dem Sprühregen, und dicht über den Dächern legte die matte Sonnenscheibe einen ockergelben Schleier über die winterlichen Farben.
»Der Rechtsmediziner hat gerade die Ergebnisse seiner Untersuchung dargelegt. Der Kommissar und der Staatsanwalt werden wahrscheinlich als Todesursache Selbstmord feststellen«, eröffnete ihr Garcia, während er sich rekelte.
Ihm fiel das fahle Aussehen von Blandine auf, und so nahm er sie sanft in die Arme und drückte sie an sich.
»Bist du okay?«
Sie antwortete nicht.
Suizid.
Krank.
Verrückt.
Die mit weißen Leinentüchern bedeckten Leichen wurden in einen Krankenwagen geschoben, einen Ersatz-Leichenwagen. Der Wagen fuhr leise davon und fädelte sich in den Verkehrsstrom ein. Blandine sah ihm nach, bis er nur noch ein leuchtender Punkt im Lichtermeer war. Sie schüttelte sich, um dieses merkwürdige Gefühl loszuwerden, das ihr das Herz zusammenschnürte. Doch das Gefühl blieb.
»Findest du nicht, dass irgendwas an der Lage der Leichen seltsam ist?«, fragte sie Paul, als sie ihm die Fotos zeigte, die sie mit seinem Handy gemacht hatte.
Ein Detail ging ihr nicht aus dem Sinn. Ein Detail, das nicht zu einem Sturz passte. Aber
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