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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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Ausgangssperre verhängt worden. Rechts glitten sie an einer massiven Kirche vorbei, deren Dach mit Raureif überzogen war. Er nahm den Fuß vom Gaspedal. Vor ihm erhob sich die düstere Burgruine.
    Unter einem ockerfarben schimmernden Himmel sah man die eingefallenen Wachtürme an der Spitze einer Halbinsel. Die beiden Flussarme vereinigten sich und legten sich wie ein Hufeisen um den Felsen. Carrère stellte den Wagen an der Zufahrt zu einem Parkplatz voller Schlaglöcher ab und entnahm dem Handschuhfach eine Taschenlampe. Er entschied sich für den Nebeneingang zu den Katakomben, da er das Risiko, entdeckt zu werden, dort geringer veranschlagte. Er konnte nur hoffen, dass der historische Felssturz nicht jegliches Durchkommen unmöglich machte.
    Niemand in der Nähe. Nur er, die Felsen und die grimmige Kälte.
    Die Abenddämmerung drohte von einer Minute auf die andere hereinzubrechen. Er sprang über die Schranke, die den Zugang zur Burg versperrte. Am Eingang zum Bergfried lagen zusammengedrückte Getränkedosen verstreut auf dem Unkraut herum. Er erklomm in ausgreifenden Schritten die Stufen des Wehrgangs und erreichte den höchst gelegenen Punkt des Felsvorsprungs. Die Schönheit der Aussicht verschlug ihm den Atem. Er konnte das von einem eisigen Nordwind gepeitschte Tal auf ganzer Länge übersehen.
    Langsam ließ er den Blick über die Felsschlucht gleiten, die sich unter ihm öffnete. Der Kessel lag bereits in tiefem Schatten. Er musterte eingehend den Kamm der Felskuppe, dann wanderte sein Blick zu beiden Flussufern, ehe er sich wieder in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Das Halbdunkel verwandelte die Felslandschaft in eine unergründliche Mauer. Keine Bresche. Keine Spalte.
    »Ich kann mich nicht geirrt haben«, murmelte er zwischen den Zähnen.
    Er schaltete die Taschenlampe ein, die einen fast unsichtbaren Lichtkreis auf die Mauer warf. Beim dritten Anleuchten fiel ihm ein Bereich auf, der dunkler war als die Umgebung und von einem dichten Gewirr von Sträuchern verdeckt wurde. Der Lichtkegel begann zu zittern und umriss den Eingang zu einem Stollen der Dunkelheit.
    Carrère eilte die Stufen hinunter und folgte dem abschüssigen Weg bis zum Flussbett. Dort blieb er unvermittelt stehen. Sein Instinkt hielt ihn zurück.
    Der Fluss wälzte sich in öliger Trägheit dahin. Ein unheilvoller Styx. Alptraumhafte Visionen von Verdammten, die mit panisch verzerrten Fratzen im Schlamm begraben lagen, schwirrten ihm durch den Kopf.
    »Du kannst nicht mehr zurück. Du kannst nicht mehr zurück ...«
    Beim ersten Schritt erreichte das eiskalte Wasser seine Knöchel. Langsam ging er weiter, damit sich sein Organismus an die Temperatur gewöhnte. Schlotternd klemmte er die Stiftlampe zwischen die Zähne und stapfte unbeirrt weiter, bis ihm das Wasser bis zur Taille reichte. Als er etwa in der Mitte des Flusses angelangt war, zitterte er vor Kälte.
    Die Nacht brach herein, und mit dem letzten Tageslicht verstummten die Geräusche der Natur. Um ihn herum gab es nur das weiße Schillern der Taschenlampe und eine feindselige Stille. Carrère blieb stehen und lauschte der Strömung.
    Bedächtig schaltete er die Lampe aus und kroch, seine Dienstbeflissenheit verfluchend, ans Ufer. Mit tauben Muskeln zog er sich auf festen Boden und schlich durch das hohe Gras. Aus der Öffnung in der Felswand drangen keinerlei Geräusche. Er ging näher heran, wobei er sich dicht an der Mauer hielt, und zog seine Waffe. Es schien ihm, als wäre er im Zentrum Frankreichs und zugleich am Ende der Welt angekommen.
    Er hockte sich nieder und warf einen Blick in den Stollen. Eine einzige undurchdringliche Finsternis. Nicht das kleinste Lüftchen. Mit pochendem Herzen betrat er den Gang. Seine Taschenlampe leuchtete auf. Er hatte einen Finger am Abzug seiner Pistole. Der Lichtkegel verlor sich in einem schmalen Stollen. Sein Keuchen durchbrach die Stille, und er tauchte in das Halbdunkel ein.
    Etwa zehn Meter vom Eingang entfernt schimmerte im Schein der Taschenlampe etwas seltsam. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, was sich seinem Anblick bot.
    Verrostete Zangen, Flaschen mit Ätznatron und Müllsäcke lagen auf dem kreideweißen Boden verstreut. Blut stand in kleinen Lachen, und getrocknete Krusten schlängelten sich in einem schmalen Rinnsal.
    Er kniete sich vor der Blutquelle hin. Der weiße Emaille-Schimmer erinnerte an das Funkeln von Edelsteinen.
    Die Höhle der Schlächter.
    In diesem Stollen zerlegten sie die Leichen,

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