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Die elfte Geißel

Die elfte Geißel

Titel: Die elfte Geißel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aurélien Molas
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beiseite und fand das, was er suchte. Er klemmte die Stiftlampe zwischen die Zähne und grub ein Notebook mit gesprungenem Bildschirm und zertrümmerter Tastatur aus. Léo drehte das Gerät um und unterdrückte einen Freudenschrei. Die Festplatte hatte überlebt.
    »Zoé! Zoé! Ich hab’s gefunden!«
    Er schrie sich die Lunge aus dem Hals, und seine Schreie hallten düster aus den Tiefen der Fabrik wider. Die Stiftlampe beschrieb große Kreisbögen. Eine ferne Stimme antwortete ihm:
    »Wo sind Sie?«
    Einen kurzen Augenblick lang erkannte er die Stimme nicht wieder. Weshalb siezte ihn Zoé? Er führte diesen Eindruck auf eine weitere akustische Halluzination zurück, richtete die Lampe aber instinktiv auf den Boden.
    »Wo sind Sie?«
    Er bemerkte eine Bewegung in der Dunkelheit. Jemand rührte sich in der Finsternis, dicht neben ihm. Die Silhouette kam rasch näher. Léo griff nach seiner Pistole.
    »Zoé?«, fragte er mit erstickter Stimme.
    Er setzte gerade zu einer Geste an, als sich ein Körper auf ihn warf und ihn flach auf den Boden drückte. Zoé hielt ihm mit einer Hand den Mund zu und flüsterte ihm ins Ohr:
    »Wir müssen fliehen. Wir sind nicht allein.«

67
Montreuil,
stillgelegte Fabrik,
Sondereinheit/OCLCTIC
    Zoé, von Panik ergriffen, drückte die Hand gegen Léos Rücken und schubste ihn, damit er einen Zahn zulegte. Keiner von beiden wusste, vor wem sie eigentlich flohen, aber ein sechster Sinn, wie ein lautes Alarmsignal, ließ sie losrennen.
    Eine hellere Zone in der Backsteinmauer. Eine schmale Öffnung. Léo hechtete durch die Lücke und fiel der Länge nach in den Schlamm. Sie stürzten sich blindlings in das Labyrinth aus Wracks und Abfällen, das die Fabrik umgab, schlitterten über zugefrorene Pfützen und wären beinahe gestürzt. Sie liefen, ohne sich umzudrehen, die Beine vor Schrecken bleischwer. Auf halbem Weg zum Wagen schrie Zoé plötzlich auf, fasste sich ans Bein und fiel der Länge nach hin, wobei ihr die matschige Brühe in den Mund strömte.
    »Zoé! Bist du verletzt?«
    »Mein Fuß! Ich kann ihn nicht mehr bewegen!«
    Ein Schuss fiel in der dunstverschleierten Dämmerung. Eine Kugel vom Kaliber 9 mm ließ die Eisdecke auf einer Pfütze, die weniger als ein Meter von Zoé entfernt war, in tausend Teilchen zersplittern. Wieder schrie sie vor Angst, vor ohnmächtiger Wut. Ihr linker Fuß, der schwer wie ein Holzklotz war, wollte sie nicht länger tragen. Einer allzu großen Kraftanstrengung unterworfen, übermittelten die Nerven widersprüchliche Signale an die Muskeln und erzeugten dadurch eine Vielzahl von Krämpfen. Gestützt von Léo, versuchte Zoé aufzustehen, aber die Schmerzen waren so stark, dass sie den Eindruck hatte, in einer Wolfsfalle zu stecken. Zwei Spannbacken aus Stahl, scharf wie Rasierklingen, die ihren Knöchel zermalmten.
    »Wir müssen hier weg!«, schrie Léo, der sie, eine Schulter unter ihre Achsel geschoben, mitschleifte.
    Sie taumelten im Gleichschritt über den spiegelglatten Weg, als eine Kugel vom Kühlergrill eines zerquetschten Ford abprallte. Öl spritzte heraus. Ein zweiter Schuss, besser gezielt. Flach gefeuert. Die Windschutzscheibe eines Citroën zersplitterte. Sie erreichten das Auto nach einem Sprint.
    Zoé ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und zog, noch ganz außer Atem, ihre Waffe. Sie schoss blindlings um sich. Das Krachen der Schüsse glich einem ohrenbetäubenden Donnern. An den Einschussstellen in den Mauern des Fabrikgebäudes stoben kleine Staubwölkchen auf. Léo drückte das Gaspedal durch. In dem Morast drehten die Reifen durch und gruben sich immer tiefer. Dann scherte der Wagen plötzlich zur Seite aus und schleuderte zehn Meter durch den Schlick.
    Ein Knall.
    Die Kugel durchbohrte die Karosserie.
    In der nächsten Sekunde steuerte Léo, dicht über das Armaturenbrett gebeugt und das Lenkrad mit aller Kraft umfassend, den Wagen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zur Ausfahrt des Lagerplatzes.
    Sein Blick streifte das halb verkohlte Notebook, wegen dem er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, und er fragte sich, ob er die Antworten, nach denen er suchte, darin finden würde. Die digitale Uhr elektrisierte ihn und ließ ihn neue Kraft schöpfen. Er hatte nicht mehr viel Zeit.
    »Zoé Hermon, Kripo Nanterre. Geben Sie mir das Hauptkommissariat der Pariser Kripo, die Mordkommission, sofort!«
    Zoé sprach sehr schnell – sie schrie regelrecht, um den Motorlärm zu überdecken.
    »Hermon am Apparat. Kripo Nanterre.

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