Die elfte Geißel
Raum betreten haben. Wenn man die Mitglieder des Einsatzkommandos und Sie selbst abzieht, entspricht das dem, was Sie sagen. Eine Gruppe von Personen muss hier eingedrungen sein, um alles zu verwüsten.«
Er schaltete sein Notebook ein und blätterte die Aufnahmen von dem Keller durch, die bei der ersten Durchsuchung gemacht worden waren, und verglich sie mit den Fotos, die seine Männer gemacht hatten.
»Nach den ersten Analysen scheint der Keller nicht verändert worden zu sein ...«
Er suchte nach dem Datum der Festnahme von Gaspard Fogeti.
»Und zwar seit 1997. Wenn ich mich Ihren Schlussfolgerungen anschließe, wurde er zu Beginn des Prozesses verwüstet. Also wurde der Film, den Sie gefunden haben, vorher gedreht.«
»Unmöglich ...«, stammelte Léo.
Aber er musste sich den Tatsachen beugen. Beide Fotoserien waren völlig identisch. Wenn Neverland in diesem Keller gedreht worden wäre, müssten sich Tapetenreste erhalten haben, und ebenso wären noch Abdrücke des Betts zu sehen. Die Familie, die hier wohnte, schien wirklich nichts zu wissen.
Doch Léo wusste, dass die kleine Julia Verno, die Ende Oktober in Clermont-Ferrand entführt worden war, in dem Film zu sehen war.
Der Polizist legte ihm zum Zeichen der Aufmunterung die Hand auf die Schulter. Er suchte nach einem passenden Ausdruck, als ihm eine seiner Mitarbeiterinnen zurief:
»Chef, da ist etwas.«
Eine junge Frau deutete auf einen kaum sichtbaren Schriftzug in einer Ecke des Raums. Die Taschenlampe enthüllte eine Botschaft, die in die Mauer eingeritzt war:
»ER wird mich töten. Helft mir.«
Der Lichtkegel strich mehrfach über den Boden, ehe er einen unvollständigen Fußabdruck zum Vorschein brachte. Die junge Frau vermaß ihn und wandte sich zu ihrem Vorgesetzten um:
»Der Abdruck stammt von einem Kind.«
Der Grafologe studierte die Fotos seit über einer Viertelstunde. Léo wurde ungeduldig und wippte in seinem Sessel mit den Füßen. Er ließ die wertvolle Büroeinrichtung noch einmal an seinem Auge vorüberziehen, als ihn ein Grölen zusammenfahren ließ.
Hinter den riesigen Fenstern des Zimmers schien der Boulevard Saint-Michel in Flammen zu stehen. Nebelgranaten schwirrten an den Fassaden entlang und wirbelten um Bäume herum. Eine dichtgedrängte Menschenmenge strömte auf den Boulevard und schwoll mit beunruhigender Langsamkeit an. Die Scheiben zitterten bei jedem Gebrüll, doch ließ sich der Mann dadurch nicht aus dem Konzept bringen.
Schließlich hob er den Kopf, legte die Lupe hin und sagte mit heiserer Stimme:
»Weiß man, mit welchem Werkzeug diese Sätze eingeritzt wurden?«
»Nicht genau. Die Experten gehen dieser Frage nach und neigen zu einer Schere.«
Der alte Mann nahm eine Schere aus einem Glas. Seine blauen Augen pendelten zwischen den Klingen und den Buchstaben auf den Fotos.
»Wahrscheinlich. Wie groß sind die Großbuchstaben?«
»Die größten messen zwei Zentimeter: Das ›E‹ und das ›R‹ von ›ER‹.«
»Fest steht jedenfalls, dass es sich um ein Kind handelt. Einen Linkshänder beziehungsweise, wohl eher, eine Linkshänderin«, sollte ich sagen.
»Ist es ein Mädchen?«
»Das lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Die Grafologie ist keine exakte Wissenschaft. Die Handschrift einer Person verändert sich mit der Zeit.«
Bei diesen Worten breitete er Schriftproben vor sich aus. Am Rand vermerkt waren das Alter und die Entwicklung der entsprechenden Buchstaben. Er kopierte den Schriftzug auf Pauspapier und legte ihn über die Schriftproben, wobei er sich auf die Großbuchstaben konzentrierte.
»Der Rand der Schönschrift spricht dafür, dass es sich um ein Mädchen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren handelt.«
Der Mann stand auf, unterdrückte eine nervöse Zuckung seines gebeugten Körpers und näherte sich einer weißen Tafel.
»In dem Bericht steht, der Schriftzug habe sich in einer Höhe von 1,23 Meter über dem Boden befunden ...«
Er griff nach einem Filzstift und schrieb: »ER wird mich töten. Helft mir.« Auf seinen abgewinkelten Arm zeigend, fuhr Léo fort:
»Wenn man steht, hält man die schreibende Hand für gewöhnlich in Schulterhöhe, sodass man davon ausgehen kann, dass das Mädchen ungefähr ein Meter vierzig groß war, vielleicht etwas mehr. Das entspricht meiner Altershypothese. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«
Der Grafologe begleitete ihn zur Tür.
»Ah, noch etwas ...«
Er starrte Léo aus seinen blauen Augen an.
»Dieses Kind
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