Die elfte Geißel
offensichtlich drohte ihr hier keine Gefahr. Er unterdrückte einen Brechreiz. Dieser für Altersheime so charakteristische Geruch war ihm unangenehm, und er fühlte sich ähnlich unwohl wie an einem Tatort oder in einer Kirche nach der sonntäglichen Andacht. In der Luft schwebte zu allen Jahreszeiten ein Geruch von herbstlichem Laub, aber hinter diesem leicht säuerlichen Geruch erahnte man die vollkommene Ergebenheit in das Unausweichliche.
Im Innenhof des Gebäudes sah er flüchtig eine Familie, die einem alten Mann, der mit krummem Rücken in einem Gartenstuhl saß, Gesellschaft leistete. Seine höchstens zehn Jahre alte Enkeltochter neben ihm schien ihn gar nicht zu bemerken und kritzelte in ihr Schulheft. Der Vater wiederum ließ die Hand des alten Mannes nicht los und schien eine Vielzahl von Gefühlen zu empfinden, die sich in verlegenem Lächeln und abgegriffenen Phrasen äußerten, die keinem anderen Zweck dienten, als die Zeit totzuschlagen. Paul erkannte in den Augen dieses Sohnes eine unübersehbare Traurigkeit, aber auch eine unwillkürliche, vergebliche Auflehnung gegen den unvermeidlichen eigenen Verfall, den er in dem Vater wie in einem Spiegel sah: In wenigen Jahren würde seine Tochter seine Hand halten und seine Einsamkeit teilen.
»Monsieur?«
Paul schaute zu der jungen Frau auf, die ihn aufforderte, ihr zu folgen.
»Die Leiterin wird Sie jetzt empfangen.«
Sie gingen durch den Spiel- und Lesesaal, der vollgestopft war mit Schachbrettern, Backgammon-Spielen und nicht zu Ende gelesenen Büchern, durchquerten den Speisesaal, wo Bedienstete bereits die Gedecke für das Abendessen auflegten, und kamen in die geriatrische Abteilung, wo eine ans Bett gefesselte Hundertjährige, die einen Rosenkranz durch ihre Finger gleiten ließ, das Verdikt des Arztes erwartete. Die alte Frau versuchte Paul anzulächeln, doch die Anstrengung ließ sie vor Schmerz aufstöhnen.
»Sie erwartet sie«, sagte die Sekretärin, auf das Ende des Ganges deutend.
Der Polizist dankte ihr und wartete einen Moment, ehe er anklopfte: Wie gewöhnlich wiederholte er innerlich genau die Punkte, die er ansprechen wollte. Er hoffte, Amandines Mutter habe sich der Leiterin im Rahmen eines Gesprächs anvertraut und irgendeine Information könne den Schleier über dem Geheimnis lüften, das diese Familie umgab. Aber auch wenn er es nicht wagte, es vor sich selbst einzugestehen, ahnte er, dass dieses Gespräch nichts bringen würde.
Diese Vorahnung verdankte sich dem, was er in der Wohnung dieser Frau gesehen hatte. Sein Blick war an nichts hängengeblieben, weder an den nackten Wänden noch auf den leeren Ablageflächen der Kommoden – nichts deutete darauf hin, dass Corinne Clerc Freunde, Leidenschaften, Begierden hatte. Diese nüchtern eingerichtete Wohnung, die kalt wie ein Grab war, gehörte einer Frau, die nicht mehr viel vom Leben erwartete und deren einzige Gesellschaft die Angst war. Der Tod ihrer Tochter hatte zweifellos das dünne Band, das sie mit dem Leben verknüpfte, durchschnitten.
Die Leiterin des Altersheims riss ihn aus seinen Gedanken, als sie die Tür öffnete.
Die Frau, die ihm die Hand reichte, musste um die sechzig sein. Sie hatte graumeliertes Haar, war klapperdürr und glich einer Lehrerin, die nicht Schritt gehalten hatte mit dem Lauf der Zeit und die dadurch, dass sie modische Kleidung trug, vergeblich versuchte, Anschluss an den Zeitgeist zu finden. Sie ging ihm voran in ein hübsches Büro, das auf ein von Geranien übersätes Gärtchen ging, und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen.
»Nun, Herr ...«, hob sie an, ihre Brille ablegend.
»Garcia, Paul Garcia.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wüsste gern ein wenig mehr über eine Ihrer Mitarbeiterinnen, Corinne Clerc.«
»Corinne? Das ist ja witzig, wir haben erst heute Morgen mit einem unserer Bewohner über sie gesprochen. Seit sie weggegangen ist, fehlt sie uns allen hier«, sagte sie lächelnd. »Sie war eine ausgezeichnete Pflegehelferin.«
»Ich verstehe nicht. Seit wann arbeitet Madame Clerc nicht mehr für Sie?«
»Seit fast zwei Monaten. Sie hat gekündigt, und, glauben Sie mir, ich habe alles getan, um sie davon abzubringen. Aber warum stellen Sie mir diese Fragen? Es ist ihr doch nichts Schlimmes passiert?«
»Sie ist tot«, antwortete er und versuchte ihr durch den Klang seiner Stimme zu signalisieren, dass es ihm leidtat, mit nur einem Satz Kummer, Bedrückung und Trauer hervorzurufen.
»Um Gottes
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