Die elfte Geißel
wir schon mal da sind: Ich glaube, Sie schulden mir ein paar Erklärungen. Seit einer Stunde drucksen Sie herum.«
Wieder verzog Broissard das Gesicht und schob den Becher zur Seite.
»Ich wusste, dass du mich das fragen würdest.«
»Dann kennen Sie auch die Antwort.«
»Ich habe mich entschlossen, Paris eine Zeit lang zu verlassen.«
»Und was haben Sie vor?«
»Das Einzige, wovon ich etwas verstehe. Die Ermittlungen fortführen.«
Carrères Gegenwart besänftigte seine regelrechten Verfolgungsängste. Er vertraute dem Brigadier voll und ganz. Doch die Zeit spielte gegen ihn. Der Aufschub, der ihm gewährt worden war, würde bald zu Ende gehen, und dann wären ihm seine eigenen Kollegen auf den Fersen. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, äußerte Carrère langsam:
»Ich habe viel nachgedacht, Chef, und ... ich will Sie begleiten. Es wäre eine Ehre für mich.«
»Es könnte gefährlich werden.«
Broissard wusste, dass es ihm nicht gelingen würde, ihn umzustimmen, und vor allem hatte er keine Lust dazu. Ein breites Lächeln erhellte das Gesicht des Brigadiers.
»Das können Sie mir alles im Auto erzählen. Wir nehmen meines. Nach Ihrem wird man schon bald über alle Radiosender fahnden.«
Schon seit über zwei Stunden rekapitulierte Broissard, der am Steuer saß, das, was er über den Fall wusste. Sylvain Carrère lauschte ihm, während er gleichzeitig in den Berichten blätterte und versuchte, aus dem Wust an Informationen schlau zu werden. Sie durchquerten Boulogne-sur-Mer, fuhren an der Küste entlang Richtung Calais. Der Brigadier stellte immer wieder die gleichen Fragen:
»Ich verstehe nicht, wieso Judith Fogeti bei Ihnen ausgepackt hat.«
»Ich habe mich das auch gefragt.«
Alain Broissard konzentrierte sich, um seine Gedanken wenigstens annähernd chronologisch zu ordnen.
»Ende 2000 erhielt die Sondereinheit den Auftrag, wegen eines Videos, auf dem der sexuelle Missbrauch eines Mädchens zu sehen war, zu ermitteln. Das Mädchen hieß Alice Deloges. Pädophile Aktivistengruppen verbreiteten den Film übers Internet, und alles deutete darauf hin, dass auch Kopien in Umlauf waren. Maxime hat meinen Spitzel auf den Fall angesetzt. Gaspard und er haben drei Monate zusammen daran gearbeitet. In dem amtlichen Ermittlungsbericht wird nichts davon erwähnt, aber ich weiß, dass Jésus Miguel Montoya mehr oder minder in diese Sache verwickelt war. Zumindest hat Gaspard Fogeti das im Prozess ausgesagt. Doch der Richter hat ihm nicht geglaubt. Sogar die Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm wurde ihm verweigert.«
»Warum?«
»Weil Fogeti nach Ansicht des Richters nicht glaubwürdig war. Zumal sich seine Enthüllungen verrückt anhörten. Der Richter hielt sie für Lügenmärchen eines Ex-Knastbruders. Vor Gericht beschuldigte Gaspard Jésus Miguel Montoya, die illegale Pornografie in Europa zu kontrollieren. Die Tatsache, dass eine Fliege im Hals der Leiche Fogetis gefunden wurde, bedeutet, dass er nicht unrecht hatte.«
»Schön. Nehmen wir an, hinter alldem steckt Montoya, und Fogeti wäre umgebracht worden, weil er ihn verpfiffen hat. Seine Frau muss das doch wissen. Das erklärt noch weniger, wieso sie sich Ihnen anvertraut hat«, gab Carrère zu bedenken.
»Ganz im Gegenteil, das erklärt es voll und ganz«, äußerte Broissard mit düsterer Stimme.
Der Brigadier setzte seinen Gedankengang fort:
»Sie rechnet damit, dass Sie bis zu Montoya vordringen ... und sie hat die Gelegenheit ergriffen, um ihren Ehemann zu rächen. Ist es so?«
Broissard nickte. Er ließ sich nichts anmerken, aber er hatte Angst. Selbst wenn sie dem Sumpf der Gräuel und der Laster lebend entkommen sollten, selbst wenn sie herausfinden sollten, wo der Film Neverland gedreht worden war, könnten sie den Erzengel niemals damit in Verbindung bringen. Niemand war ihm je auf die Schliche gekommen. Niemand hatte den Mumm gehabt, ihn zu behelligen.
Außer Maxime Kolbe.
Maxime hatte bei den Ermittlungen im Fall Alice an die Tür von Jésus Miguel Montoya geklopft. Dies führte zu der spektakulären Festnahme des Vergewaltigers und der Befreiung des Mädchens, das in einer stillgelegten Metrostation ausgesetzt worden war. Maxime hatte sich sehr bedeckt gehalten, was den Verlauf dieser Begegnung betraf.
Broissard zog aus seiner Tasche das Blatt, das er Judith Fogeti abgenommen hatte, und hielt es dem Brigadier hin.
»Das habe ich gefunden.«
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Carrère sah in fragend an.
»Was soll das sein?«
»Eine Adresse,
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