Die elfte Geißel
als er die sechs zerborstenen Flaschen sah.
»Sie sind nicht aus der Übung gekommen.«
Die Scheinwerfer des Volvo leuchteten die Schießzone inmitten eines brachliegenden Feldes aus, das von einem dichten Wald gesäumt wurde, über dem ein Gewitter aufzog. Unterhalb der Böschung zeichnete sich ein von Sattelanhängern begrenzter Autobahnrastplatz wie ein Schattenspiel ab.
»Kommen Sie, ich spendier Ihnen einen Kaffee.«
Die Tankstelle war beinahe ausgestorben. In einer Ecke standen Fernfahrer beisammen und verglichen ihre Routen, während sie sich Koffein reinzogen. Hinter den großen Glasfenstern huschten Streiflichter über die A16.
Broissard ging an der Theke entlang zu den Toiletten. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die Kabinen leer waren, begann er sich das Gesicht zu waschen. Die ganze Nacht hatte er kein Auge zugetan, und seine Gedanken hatten sich in einer Endlosschleife aufgehängt. Er hatte sich gewünscht, es würde nie aufhören, und das Nichts würde ihn verschlingen und verdauen, bevor es ihn, befreit von seinen Erinnerungen, wieder auswürgte.
Du kannst noch nicht verschwinden.
Du musst noch etwas erledigen.
Eine Glanzleistung, um mit sich ins Reine zu kommen. Er nahm einen Rasierapparat aus seinem Kulturbeutel und rasierte sich seinen Schnurrbart ab. Ein neuer Tag. Ein neues Gesicht. Ein neues Leben.
Vor seiner Tasse Kaffee sitzend, dachte Sylvain Carrère nach und knackte dabei unwillkürlich mit seinem Stiernacken. Als ihn der Anruf des Capitaine erreichte, hatte er keine Sekunde gezögert und war mit durchgetretenem Gaspedal zu diesem abgelegenen Parkplatz gedüst, um ihn zu treffen. Er hatte geahnt, dass dieses Treffen ein Wendepunkt in seinem Leben bedeuten würde. Vergeblich hatte er versucht, sich Vernunft zu predigen, nur das zu tun, was die Ermittlungen verlangten. Er spürte das unüberwindliche Verlangen, Alain Broissard zu folgen. Ganz gleich, wohin.
Bis auf den Tod seiner Eltern, die starben, als er zwei Jahre alt gewesen war, war sein ganzes Leben nur eine vorhersehbare Folge von Ereignissen gewesen, ein bruchloser Werdegang, und er hatte sich schließlich in der irrigen Überzeugung, aus der öden Eintönigkeit seines Alltags ausbrechen zu können, entschlossen, zur Polizei zu gehen. Aber in der Tretmühle des Polizeireviers Rouen folgte eine Enttäuschung auf die nächste. Verkehrsunfälle, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verbrechen aus Leidenschaft, Schlägereien ohne Anzeigen, das Durchdeklinieren der immer gleichen, banalen Delikte. Er ertappte sich oft dabei, wie er sich Fälle ausmalte, die diesen Namen verdienten, verzwickte, unlösbare Fälle, die ihm die notwendige Vitalität geschenkt hätten, um jede Stunde des Tages voll zu genießen.
Sein Liebesleben verlief im gleichen Trott. Es hatte ihm nur einen vorübergehenden Nervenkitzel verschafft und ihn nie richtig entflammt. Die unbekannten Frauen, die sich in seinem Bett ablösten, erregten ihn nur durch eine bestimmte Geste, eine bestimmte Haltung; eine Folge kurzer Momente, die ihn nicht erfüllten. Dabei glaubte er an die »große Liebe«. Er glaubte felsenfest und mit einer Naivität daran, die so groß war, dass er jene Frauen, die es wagten, ihm ihr Herz zu schenken, bitter enttäuschte.
Um der Leere zu entrinnen, hatte er sich in seiner Jugend ins Nachtleben gestürzt. Die nächtlichen Zerstreuungen verschafften ihm nur ein kurzzeitiges Lustgefühl, das schon am nächsten Morgen schlagartig verblasste, sodass er ständig, wie unter einem Zwang, zu neuen Feten, neuen Frauen weiterzog. Aber dieses Doppelleben befriedigte ihn nicht, sondern lud seinen Körper und seinen Geist mit einer zerstörerischen Kraft auf, einer gefährlichen Mischung aus widersprüchlichen Träumen und Hoffnungen. Er spürte unter seiner Haut das Nitroglycerin fließen. Er wartete auf seine Stunde. Es fehlte nur der Funke.
Der Fernsehbildschirm über der Theke weckte seine Aufmerksamkeit. Die Morgennachrichten. Ein gebeugter Maxime Kolbe bahnte sich einen Weg durch die Meute der Journalisten. Kommissar Musil und sein Anwalt stiegen am Fuß der Treppe vor dem Justizpalast aus einem Wagen.
Carrère drehte sich um und sah Broissard aus der Toilette kommen.
»Sie sehen jünger aus«, sagte er lächelnd.
Der Capitaine zog ein schiefes Gesicht und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.
»Ich werde mich daran gewöhnen.«
Der Brigadier wartete, bis er seinen ersten Schluck Kaffee getrunken hatte, ehe er loslegte.
»Wo
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