Die elfte Geißel
hatte Angst, mehr Angst, als wir sie jemals haben werden.«
35
Paris,
Sondereinheit
Nichts ging auf.
Nichts passte zusammen.
Dieser Fall erinnerte ihn an eine Sanduhr. Die Zeit und die Indizien schwanden jedes Mal dahin, wenn er glaubte, eine Antwort gefunden zu haben. Mit dem letzten Sandkorn drohte er die Kinder endgültig zu verlieren.
Léopold tauchte in der Metrostation unter und wich so der Menge aus, die auf dem Boulevard zu schäumen begann. Die schrillen Rufe hallten in den Gängen wider, als wäre eine wilde Meute hinter ihm her. Vor Erschöpfung waren seine Beine bleischwer. Er kämpfte gegen den Impuls an, die Augen zu schließen – und sei es auch nur für ein paar Sekunden, um nicht zusammenzubrechen. Er ging auf dem Bahnsteig auf und ab und betete, die U-Bahn möge bald kommen.
Der überfüllte Wagen verschluckte ihn. In der schweißtreibenden Hitze quälte ihn das unbändige Schlafbedürfnis noch stärker. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Er hatte Lust, an den Scheiben entlangzugleiten, sich in eine Ecke zu kauern und sich in eine heilsame Erstarrung zu flüchten. Fern des Tumults, befreit von dem, was ihn umgab, befreit von sich selbst.
Nicht ganz bei sich, ging er die Rue du Faubourg Saint-Denis hinauf und betrat seine Wohnung, fiebrig, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd. Er öffnete den Gefrierschrank, schüttete die Eiswürfelschale im Spülbecken aus und tauchte sein Gesicht in das eiskalte Bad.
Die beißende Kälte tat ihm unglaublich gut. Er genoss es regelrecht, wie sie sich entlang seiner Schläfen, über seinen Augen ausbreitete. Langsam bekam er wieder einen kühlen Kopf, und all die schmerzlichen Bedrohungen rückten ein wenig von ihm ab. Die Beklommenheit ging zurück, und er schöpfte neue Kraft.
Sein erster klarer Gedanke galt den Kindern.
Während er sich das Gesicht abtrocknete, musste er sich den Tatsachen beugen: Die Häufigkeit seiner Anfälle nahm zu. Der ständige Wachzustand, in dem er sich hielt, zerfraß ihn von innen. Wenn er so weitermachte, würde er noch den Verstand verlieren. Aber jetzt konnte er nicht aufgeben.
Nicht, solange die Kinder in seinem Kopf schrien.
Es stand fest, dass Neverland nicht in Fogetis ehemaligem Haus gedreht worden war.
Vermutlich wollte jemand den Anschein erwecken, der Film sei alt, um Spuren zu verwischen.
Daraus folgte, dass die Szenerie dieses Kellers an einem anderen Ort originalgetreu nachgebaut worden war.
Die Mistkerle hatten also alles sorgfältig geplant, auch die falsche Fährte für die Polizei. Wenn jemandem die Übereinstimmungen zwischen dem Raum, in dem der Film gedreht worden war, und dem Keller des ehemaligen Hauses von Fogeti auffielen, würde er logischerweise daraus folgern, dass Neverland Mitte der neunziger Jahre gedreht worden war. Ohne die Identifikation von Julia Verno hätte er sich selbst zum Narren halten lassen.
Raffiniert. Aber es musste auch eine Schwachstelle geben.
Weshalb ahmte das Szenenbild des Films ausgerechnet diesen Keller nach?
Auf einen Zettel kritzelte er:
1. Die Wahl des Kellers von Fogeti als Vorlage verdankt sich rein dem Zufall. Anmerkung: Das passt nicht zu der Sorgfalt, mit der alle Spuren verwischt wurden.
2. Was bedeutet es, wenn der Keller gezielt als Vorlage ausgewählt wurde?
Antwort: Dass diejenigen, die für diese Gräueltat verantwortlich sind, den Keller und das Vorleben von Gaspard Fogeti kennen.
Léo las dieselben Seiten wieder und wieder durch und ließ so Fogetis Akte ab 1996 – dem Jahr, in dem dieser mit der Produktion von Pornofilmen begonnen hatte – noch einmal Revue passieren. Die Liste der »bekannten Kontaktpersonen« brachte ihn nicht weiter: Amateur-Schauspieler, die er unter den Kunden seines eigenen Sexshops angeworben hatte, Prostituierte von der Rue Saint-Denis, die für die Dreharbeiten aufgelesen wurden. Am Set übernahm Fogeti sämtliche Posten des technischen Teams: Kameramann, leitender Kameramann, Tonmeister, Cutter. Die drei von ihm produzierten Filme waren Flops gewesen. Zu schlecht gemacht, zu schäbig, selbst für einen Porno. Léo überflog die Synopsis der fraglichen Filme, in der Hoffnung, eine Verbindung zu seinem Fall zu entdecken. Fehlanzeige!
Die Produktions- und Kopierkosten hatten Fogeti an den Rand des Bankrotts gebracht und ihn gezwungen, sich zu verschulden. Da er seine Immobilie nicht mit einer Hypothek belasten wollte, sollte ihn die Fotosession mit dem Kind finanziell sanieren; zumindest hatte er das nach seiner
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