Die elfte Jungfrau
gar nichts mit der Marie! Die war hinter einem ganz anderen her!«
»Hinter wem denn?«
»Hat sie ein großes Geheimnis draus gemacht. Sieht man ja, was dann passiert!«
»Vielleicht ist sie gar nicht freiwillig ins Wasser gegangen. Vielleicht hat ihr geheimnisvoller Liebster sie auch ersäuft!«
»Mag einer von den Fahrenden gewesen sein! Wisst ihr noch? Die Sibill hat’s am Kattenbug erwischt, gerade einen Monat später. Am Ursulatag war’s! Vergewaltigt haben sie sie und ihr anschließend das Genick gebrochen. Und in einem Hinterhof liegen gelassen. Ich geh’ nicht mehr alleine durch die Gassen am Hospiz Ipperwald. Das könnt ihr mir glauben.«
Almut zuckte zusammen. Die besagte Sibill hatte sie gekannt. Sie war das Milchmädchen gewesen, das zweimal in der Woche bei Gertrud seine Ware abgeliefert hatte. Clara hätte sie gerne als Schülerin aufgenommen, denn sie war ein anstelliges Geschöpf und konnte erstaunlich gut rechnen. Aber das genügte ihr. Den Ehrgeiz, auch noch die Buchstaben zu lernen, hatte sie nicht. Dann war sie eines Tages nicht mehr erschienen, und die Beginen hatten sich gefragt, was mit ihr geschehen sein mochte. Aber der Milchbauer hatte nur einen Jungen geschickt, der maulfaul war, aber wenigstens die Kannen pünktlich ablieferte.
»Diese Gegend zu meiden, würde ich euch auch raten, Mädchen!«, stimmte Almut zu. Aber um weitere Schauergeschichten zu unterbinden, mahnte sie: »Und jetzt wieder an die Arbeit! Frau Clara hat euch doch sicher eine Aufgabe gegeben!«
Fügsam nahmen die Mädchen ihre Griffel wieder auf und kämpften sich durch die Buchstaben. Auch Pitter wurde wieder sichtbar und kritzelte ungelenk auf seiner Tafel herum. Nur Bertram hielt weiterhin Teufelchen, die schwarze Katze, auf seinem Schoß und kraulte ihr den Nacken. Sie schnurrte zufrieden. Almut wollte den Raum schon verlassen, als sie aus dem Augenwinkel beobachtete, wie er das Tier mit einer plötzlichen Bewegung von sich schleuderte. Teufelchen kreischte empört, Almut drehte sich um und funkelte den Jungen wütend an. Der aber krampfte nur seine Hände zusammen und biss sich auf die Lippen.
»Was hat dir die arme Katze getan, Bertram? Sie hat sich ganz friedlich von dir streicheln lassen«, herrschte sie ihn an, aber er mahlte nur schweigend mit den Kiefern und stierte vor sich hin. »Und ich habe mich dafür eingesetzt, dass du hier etwas lernen kannst. Wenn du dich nicht ordentlich benimmst, dann will ich dich hier nicht wieder sehen!«
»Lasst nur, Frau Almut.« Pitter war aufgestanden und packte den grobschlächtigen Jüngling am Arm, zerrte ihn hoch und schob ihn aus dem Raum. »Ich bring ihn rüber zu seiner Mutter!«
Almut nickte, noch immer erbost, und beugte sich nieder, um die Katze zu locken. Aber auch die war ungehalten, fauchte sie an und verpasste ihr einen Kratzer auf die Hand.
Nicht besonders gut gelaunt, erhob sie sich und war froh, als Clara mit einem Schwall kalter Luft durch die Tür kam, just als Pitter mit Bertram das Häuschen verließ.
»Du solltest deine Schüler nicht unbeaufsichtigt lassen!«, warf Almut ihr vor und leckte sich das Blut von dem Kratzer an ihrer Hand.
»Du hast schlechte Laune, Almut. Haben sie dich gestört?«
»Sie haben sich gezankt und herumgejammert.«
»Ach ja! ›Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämen, und wer viel lernt, der muss viel leiden.‹«
»Lass mich bloß mit den Prediger-Sprüchen in Frieden. Das ist auch so ein Jammerlappen!«
Mit festem Tritt stapfte Almut die hölzerne Stiege hoch und ärgerte sich über sich selbst.
Die Einnahmen aus den Verkäufen fein gestickter Altartücher, sehr weltlicher, aber hübscher Hauben, Totenklagen und Gedenkgebeten, Seidenbahnen und Webborten wollten und wollten nicht stimmen. Schon dreimal hatte Almut die Zahlenreihe addiert und kam jedes Mal zu einem anderen Ergebnis. Es störte sie das gemeinsame Rezitieren aus dem Unterrichtsraum, das Rufen des Bierkutschers vor dem Tor, das Tschilpen eines mutigen Spätzchens an ihrem Fenster und selbst das Knistern der Kohlen in der Wärmepfanne in ihrem Raum. Ungehalten warf sie den Griffel und das Wachstäfelchen beiseite und stand auf, um aus dem Fenster zu schauen.
Grauer Nieselregen ging über den Feldern nieder, die braun und schlammig brachlagen. Vereinzelte krustige Schneelachen tauten allmählich auf, und von den kahlen Ästen des Apfelbaumes vor der Mauer, die den Beginenhof umgab, tropfte es unablässig. Trist und ungemütlich zog der
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