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Die elfte Jungfrau

Titel: Die elfte Jungfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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sie schmiegte.
    »Wenn Ihr es wünscht, Herr, so werde ich das tun.«
    »Ich wünsche es, mein Kind. Hoch mit Euch!«
    Vier Stockwerke wand sich die glänzende Holztreppe empor, dann erreichte sie den Ausgang, der auf die zinnenbewehrte Plattform des Wohnturms führte. Dort blieb sie einen Augenblick stehen.
    Ivo vom Spiegel lehnte, mit dem Rücken zu ihr, an einer der Zinnen und sah über die Stadt hinaus. Er trug ebenfalls ein langes, pelzbesetztes Gewand aus königsblauem feinstem Wolltuch. Der Barbier hatte seine Haare und seinen Bart gestutzt, doch die Tonsur war nicht mehr zu erkennen.
    »Hascht Ihr nach dem Wind, Herr vom Spiegel?«
    Er drehte sich um, schaute sie an und sagte - nichts.
    Ziemlich lange sagte er nichts.
    Sie hielt seiner Musterung stand, ein klein wenig lächelnd. Schließlich meinte sie: »Versteht Ihr nun, dass einst Euer prächtiges Gewand meine Zunge lähmte? Heute scheint das meine Euren beweglichen Geist mit Starrheit zu schlagen.«
    Endlich räusperte er sich, doch seine ersten Worte klangen noch heiser.
    »›Es ist das Licht süß und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen.‹«
    »So sagt der Prediger. Ihr genießt das Leuchten des Frühlingstages in dieser luftigen Höhe?«
    »Das tue ich, doch die Sonne, edle Frau, scheint heute schon am Morgen im Zenit zu stehen.«
    »Ich erhalte hübsche Komplimente an diesem Tag. Auch Euer Vater fand wohlwollende Worte für mich. Er bat mich, ihm den beschwerlichen Weg den Turm hinauf abzunehmen und Euch zu bitten, Euch für die Messe bereit zu machen.«
    »Das tat er? Eine unerwartete Bitte von ihm, zumal ich ihn davon in Kenntnis setzte, ich wünschte meine eigene Andacht unter freiem Himmel zu halten.«
    »Je nun, dann werde ich ihm ebendies ausrichten.«
    »Nein, Begine, das werdet Ihr nicht tun. Aber wenn Ihr gehen wollt, so will ich Euch nicht daran hindern, dem Gottesdienst in der Kirche beizuwohnen.«
    Es war ein geradezu vollkommener Frühlingstag. Milde spielte ein Windhauch mit dem breiten Pelzbesatz ihres tiefen Ausschnitts und streichelte ihr die Haut am Hals. Fern von den manchmal unangenehmen Gerüchen der Gassen war die Luft hier oben rein und klar. Schaute man nach Osten, so lag vor den Mauern das glitzernde Band des breiten Stromes, auf dem die zahlreichen Schiffe, Kähne, Flöße und Segelboote leise schwankten. Alle Gärten, in die man von hier oben blickte, prangten in neuem Grün, die Obstbäume hatten ihre weißen Blütenschleier angelegt, und manch bunter Farbklecks zeugte von sorgsam gepflegten Blumenbeeten. Vögel flatterten in spielerischen Kapriolen um das graue Mauerwerk, tschilpend, zwitschernd, tirilierend, und kleine weiße Wolkenlämmer zogen träge auf ihrer azurblauen Weide dahin.
    »›Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit‹«, seufzte sie. »Und darum hat er wahrscheinlich auch nichts dagegen, wenn ich heute die Messe schwänze.«
    »Eine kleine Sünde.«
    »Für die mir mein Beichtiger hoffentlich keine zu große Buße auferlegen wird.« Sie zwinkerte ihm zu und meinte dann: »Ein paar süße Wecken ist es allemal wert.«
    »Dann bleibt hier bei mir und genießt den Blick über unsere Stadt. Seht, wie geschäftig sie ist.«
    Almut lehnte nun auch an einer der Zinnen und schaute auf die Gassen hinunter. Und während sie sich an den kleinen Gestalten ergötzte, die eifrig in die Kirchen strömten, wurde sie plötzlich von dem Rauschen und den heiseren Schreien hoch über sich abgelenkt. Weit droben am Himmel zog eine pfeilförmige Formation dahin. Hunderte von Vögeln suchten ihren Weg das Rheintal hinab.
    »Die Gänse kommen von Süden her!«
    »Ja, und - o ja!« Almut strich sich über den grünen Ärmel und kicherte. »Rigmundis’ letzte Vision.«
    »Wieder etwas Bedrohliches?«, kam sofort die besorgte Frage.
    »Nein. Und wahrscheinlich war es auch keine Vision … Sie sagte vorher, ich würde ein grünes Kleid tragen, wenn die wilden Gänse zurückkommen. Na ja, die Beginen wussten, dass meine Mutter dieses Kleid für mich zu Ostern machen ließ, sie haben daran heimlich mitgearbeitet. Und dass es jetzt die Zeit für die Gänse ist, dazu braucht es auch keine visionären Gaben.«
    Ivo lachte leise auf und nickte.
    »So pflegen Scharlatane ihre Vorhersagen zu gestalten.«
    »Rigmundis ist kein …«
    »Nein, Eure Seherin hat eine wahre Gabe.« Plötzlich wurde Almut wieder ernst, denn ihr fiel noch etwas ein, das die Begine einst gesagt hatte.
    »Als sie damals über Eurem Hungertuch saß und das

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