Die elfte Jungfrau
»Ich trage große Schuld, Frau Almut. Unendlich große Schuld. Aber ich konnte nicht sprechen … Er war immer so gut zu mir.«
»Ich begleite dich zurück, Bertram. Komm.«
Almut bat eine der neugierigen Nachbarinnen, sie möge Lena und Pater Ivo ausrichten, Bertram sei krank und müsse in die Infirmerie zurück.
Dort hatte der Junge sich wieder einigermaßen beruhigt, und Almut fragte den Pförtner, ob sie den ehrwürdigen Vater sprechen dürfe. Während der Bruder zur Abtswohnung ging, bat Bertram sie, noch einen Augenblick zu verweilen.
»Ich habe etwas für Euch geschnitzt, Frau Almut. Eine Kleinigkeit nur. Bitte seid nicht böse deshalb.«
»Aber, Bertram, warum sollte ich? Deine Arbeiten sind doch rechte Kunstwerke.«
»Nnnaja...!«
Bertram führte sie in den Raum neben den Vorratslagern der Küche, den man ihm als kleine Werkstatt hergerichtet hatte. Dort war es durch den Küchenkamin auch in den kalten Monaten warm, durch ein hohes verglastes Fenster fiel ausreichend Tageslicht, an der Wand stapelten sich Holzblöcke, sehr ordentlich waren die Werkzeuge auf Borden abgelegt, und eine halb fertige Schnitzerei stand auf dem sauberen Tisch. Bertram aber hob einen Truhendeckel und holte ein in ein Leinentuch eingewickeltes Werk heraus.
»Hier, Frau Almut. Zum Dank für alles, was Ihr für mich getan habt.«
Almut wickelte vorsichtig das gut zwei Handspannen große Stück Holz aus und stellte es dann auf die Tischplatte.
»Josef von Nazareth, der Zimmermann und Führer der heiligen Familie!«, erläuterte Bertram.
Und tatsächlich war es ein Mann in einem langen, wunderbar gearbeiteten Gewand, der einen Stab in der rechten Hand hielt. Der linke Arm war halb erhoben, und der weite Ärmel fiel faltenreich bis zum Boden. Sein Haupt war unbedeckt, seine Haare kurz geschnitten, genauso wie sein Bart, und er schien auf jemanden links neben sich hinunterzusehen.
»Ich könnte auch einen anderen Namen für ihn finden!«, flüsterte Almut und fuhr mit der Fingerspitze über das glänzend polierte, silbrig graue Holz.
»Könntet Ihr?« Bertram lächelte. »Dann habe ich wohl gut gearbeitet.«
Almut musste schlucken. Dann hob sie die Figur hoch und betrachtete sie genauer. Wie immer konnte sie nur tiefste Bewunderung für den begnadeten Künstler finden, der es geschafft hatte, auf so kleinem Maß das vielschichtige Wesen seines Modells einzufangen. Sie fand in dem Gesicht Güte und Strenge, Würde und das winzige Lachen um seine Augenwinkel, aber auch Autorität und Verständnis, Scharfsinn und Selbstbeherrschung. Was sie nicht fand, war Bitterkeit.
»Du hast ihn gut beobachtet.«
»Ja, Frau Almut. Aber er ist kein einfacher Mensch.«
»Wahrhaftig nicht.« Unendlich sorgsam hüllte Almut die Statue wieder in ihr Tuch. »Ich danke dir, Bertram. Ich danke dir von ganzem Herzen.«
Lodewig kam in die Werkstatt gepoltert, eifrig bemüht, seinen Auftrag zu erfüllen.
»Frau Almut, der ehrwürdige Vater lässt Euch zu ihm bitten.«
»Nun, dann will ich gehen. Leb wohl, Bertram, und möge die barmherzige Mutter Maria dir eine Trösterin in schweren Stunden sein.«
Theodoricus empfing sie mit großer Freundlichkeit, aber auch mit ernster Miene.
»Es ist also Eurer Seherin Gesicht wahr geworden, wie mir Ivo berichtete.«
»Ja, ehrwürdiger Vater, und es hat ein entsetzliches Ende genommen. Bertram jedoch wird in der nächsten Zeit unsagbar niedergeschlagen sein.«
»Ich werde mich persönlich um ihn kümmern, Frau Almut. Mir scheint, er hat großes Vertrauen zu Bruder Markus gefasst. Und mit dem jungen Lodewig hat er sich ebenfalls angefreundet. Junge Menschen kommen auch über den Tod ihnen nahestehender Menschen hinweg.«
»Einer nicht.«
Theodoricus nickte.
»Einer nicht.«
Der Abt ging einige Schritte in seiner Stube auf und ab und bat dann: »Erzählt mir, was heute geschehen ist.«
Almut berichtete von dem Fund des Toten, von Lenas Reaktion und Pater Ivos Rolle als fürsorglicher Helfer. Was sie zunächst ausließ, war das, was ihr Bertram gezeigt hatte. Theodoricus bemerkte es dennoch.
»Ihr verschweigt noch etwas, Frau Almut.«
»Ja. Ich möchte es erst erzählen, wenn auch Pater Ivo dabei ist.«
»Nun gut. Dann berichtet mir von Magda. Habt Ihr sie ins Vertrauen gezogen?«
Sie unterhielten sich eine Weile, bis Bruder Johannes, der Aufwärter des Abtes, die Rückkehr des Paters meldete.
»Ah, Begine, Ihr habt schon Bericht erstattet?«, fragte er und nahm auf Theodoricus’ Wink Platz
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