Die elfte Jungfrau
Dummes Gerücht. Vögel sprechen nicht.«
»Was soll’s denn sonst gewesen sein?«
»Weiß man’s?«
»Vielleicht ein Dämon in Vogelgestalt. Die sollen ja in allerlei Formen auftreten!«, mutmaßte die Kerzenzieherin genüsslich.
»Vielleicht. Auf jeden Fall hat der Hinze den Auftrag bekommen, die Waren in den Keller zu schaffen, und er sagt, es sei ihm ganz anders geworden. Denn man kann ja nie wissen, was bei einem Mann wie Krudener alles in den tiefen Gewölben haust.«
Die Vorstellung, die Kellerräume des stadtbekannten Alchmisten aufzusuchen, entlockte den Zuhörerinnen ein entsetztes Stöhnen.
»Aber der Hinze ist ein Mann, der seine Aufgabe ernst nimmt, und er hat den ersten Ballen aufgebuckelt und ist die Treppe runter. Es gab nur eine einzige flackernde Fackel dort. Und als er den Sack an die Wand gelehnt hat und aufschaute, da stand er einer grauenvollen Gestalt gegenüber. Sie hatte glühende, weit aufgerissenen Augen, und lebendige Schlangen umzüngelten ihren Kopf.«
Die drei Frauen rückten näher zusammen, wie um sich gegen den Angriff der Reptilien zu schützen.
»Und von dem Krudener weit und breit nichts zu sehen!«
»Der Herr schütze uns vor Nattern und Schlangengezücht!«
»Das hat der Hinze auch gesagt, aber dann hat er gemerkt, dass es nur Schnitzwerk war, auf der Tür eines Schrankes. Und dann dachte er, vielleicht sollte ja der Sack in den Schrank geräumt werden, und hat die Tür aufgemacht.«
»Heiliger Josef und Maria. Wie konnte er nur!«
Die Erzählerin nickte.
»Heute würde er das nicht wieder tun, das hat er geschworen. Aber damals hat er den Mut gehabt, und was soll ich Euch sagen - der Schrank war ganz leer.«
»Ahhh!«
»Nur - dahinter war noch eine Tür. Und die hat er auch aufgemacht. Und da hat er sie gefunden.«
»Was? Wen hat er gefunden?«
»Die Knochen der Toten!«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Ganze Berge davon.«
Erstickte Laute des Grauens waren zu hören.
»Der Hinze hat die Tür ganz schnell wieder zugemacht und ist wie von Teufeln gehetzt die Treppe rauf. Und da hat er sich im Gang geirrt und ist in das Laboratorium geraten. Und da stand diese saubere Jungfer, die eben hier eingekauft hat - ganz und gar mit rotem Blut verschmiert!«
Hastig wurden schützende Kreuzzeichen gemacht.
»Der Hinze war kreidebleich, als er bei uns ankam, und hat noch die ganze Nacht gezittert«, vervollständigte die Bürstenbinderin ihre köstliche Erzählung.
13. Kapitel
Z ur selben Zeit wurde eine weitaus erbaulichere Geschichte in der Schulstube bei den Beginen vorgetragen.
»Ursula war die fromme und sehr schöne Tochter des Königs der Bretagne. Der König von England hörte von ihrer großen Tugend, Weisheit und Schönheit und wollte sie mit seinem einzigen Sohn Conan verheiraten. Er schickte Gesandte zum Hof des bretonischen Königs. Doch der wollte seine Tochter nicht mit einem Heiden vermählen. Daraufhin sprachen die Gesandten schwere Drohungen aus.«
Clara saß am oberen Ende des Tisches und nickte Mia zu, die den Text ganz fehlerfrei von dem Pergament abgelesen hatte, auf dem die Legende aufgeschrieben war. Das Mädchen reichte das Blatt an ihre Nachbarin weiter, und mit einem Lispeln haspelte Lissa sich durch die nächste Passage.
»Um ein Unglück ssu verhindern, betete die fromme Königstochter und hatte eine göttliche Eingebung...«
Wie üblich gab es leises Gekicher, und Clara wandte sich mit einem scharfen Blick an die Übeltäter. Lissa fuhr mit noch leiserer Stimme fort und berichtete von den Bedingungen, die Ursula stellte. Würden sie erfüllt, wolle sie einer Heirat zustimmen. Conan sollte sich taufen lassen und ihr eine Frist von drei Jahren bis zur Hochzeit gewähren. Innerhalb dieser Zeit wollte sie auf eine Pilgerfahrt gehen, bei der zehn vom englischen König und ihrem Vater ausgewählte Jungfrauen sie begleiten würden. Ihr und jeder der anderen zehn Jungfrauen sollten sich noch einmal je tausend weitere zugesellen. Alle zusammen wollten sie sich dann nach Rom aufmachen.
Almut, die mit ihrer Brettchenarbeit nahe am Fenster saß, verbissen das Webschiffchen durch die Kettfäden zog und dabei versuchte, durch die Drehung des Brettchenstapels das vorgegebene Muster zu erzeugen, lauschte nur mit halbem Ohr der bekannten Legende. Eigentlich hätte sie viel lieber an der Kapelle gearbeitet, aber das Wetter war umgeschlagen, und eisiger Regen fiel aus düsteren Wolken. In ihrem Zimmer über der Stube war es zu kalt, um feine
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