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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Sie bergen keine Geheimnisse mehr. Er kann sie in den Wahnsinn treiben und mit der entsprechenden Dosis von Bromiden wieder zurückholen. Dagegen Slothrop ...
    So zittert der Pawlowianer durch sein Büro, fühlt sich unruhig und alt, sollte schlafen gehen und kann nicht. Es muß mehr dahinterstecken als nur die simple Konditionierung eines Kindes vor vielen Jahren. Er ist zu lange Arzt, um nicht Reflexe auf bestimmte Signale entwickelt zu haben. Er weiß Bescheid: er weiß, daß mehr dahintersteckt. Spectro ist tot, und Slothrop (Gefühle der Bemächtigung, ganz ruhig jetzt, mein Alter ...) war mit seiner Darlene zusammen, nur wenige Häuserblocks vom St. Veronika entfernt, zwei Tage davor.
    Wenn ein Ereignis auf ein anderes mit solch schrecklicher Regelmäßigkeit folgt, nimmt man natürlich noch nicht automatisch an, daß es sich dabei um UrsacheundWirkung handelt. Aber man sucht doch nach irgendeinem Mechanismus, der einem die Sache erklären könnte. Man analysiert, man arbeitet ein vernünftiges Experiment aus ... Er ist es Spectro schuldig. Selbst wenn der Amerikaner vor dem Gesetz kein Mörder sein sollte,
    ist er doch krank. Man muß die Krankheitsgeschichte aufarbeiten, eine Behandlungsmethode finden.
    Pointsman weiß, daß dieses Unternehmen die Gefahr einer Verführung für ihn birgt. Wegen der Symmetrie... Schon früher hat er sich von Symmetrien auf den Holzweg locken lassen: bei gewissen Testergebnissen ... als er annahm, daß jeder Nervenmechanismus seine spiegelbildliche Ergänzung haben müsse -das "Irradiieren" beispielsweise die "Induktion" ... wer hatte überhaupt gesagt, daß beides existierte? Vielleicht wird es ihm diesmal ähnlich gehen. Und doch verfolgt sie ihn, die Symmetrie dieser beiden Geheimwaffen, draußen im "Blitz", die V1 und die V2, eine die Umkehrung der anderen... Pawlow zeigte, wie spiegelbildliche Vorstellungen im Gehirn vertauscht werden können. Die Begriffe des Gegensatzes. Doch welche neue Pathologie kann es sein, die sich jetzt draußen zeigt? Welche Krankheit wohnt den Ereignissen, wohnt der Geschichte selbst inne? Daß sie symmetrische Gegensätze wie diese Robotwaffen zu erschaffen vermag?
    Zeichen und Symptome. Sollte Spectro recht behalten ? Konnten das Außen und das Innen beides Teile desselben Kraftfelds sein? Wenn nur die geringste Möglichkeit bestünde ... dann sollte Pointsman die Antwort an der Grenze suchen, an der Schnittstelle ... stimmt's? ... auf der Rinde von Lieutenant Slothrops Hirn. Der Mann wird leiden - vielleicht, in manchen klinischen Aspekten, sogar zerstört werden: aber wie viele andere leiden heute nacht in seinem Namen? Du liebe Güte, jeden Tag wägen und akzeptieren sie in Whitehall Risiken, gegen die seines hier fast trivial wirkt. Fast. Irgend etwas ist da, zu transparent, zu flüchtig, als daß er es festhalten könnte - die Psi-Sektion würde vielleicht von Ektoplasma sprechen -, aber er weiß, daß die Zeit nie günstiger war, daß er die ideale Versuchsperson zur Hand hat. Er muß jetzt zugreifen, will er nicht für immer in die steinernen Korridore gebannt bleiben, deren Mittelpunkt er kennt. Doch muß er sich auch offenhalten, selbst für die Möglichkeit, daß die Psi-Leute recht haben. "Wir alle mögen recht behalten", notiert er an diesem Abend in sein Tagebuch, "und jede unserer Hypothesen, und noch mehr, kann sich als wahr erweisen. Es gibt für mich, was immer wir entdecken werden, keinen Zweifel, daß er im physiologischen wie im historischen Sinne ein Ungeheuer ist. Wir dürfen niemals die Kontrolle verlieren. Der Gedanke, daß er, nach dem Krieg, in der Welt der Menschen untertauchen könnte, erfüllt mich mit tiefem Entsetzen, dessen ich nicht Herr zu werden vermag ..."

 [1.18] Millionen letzter Momente

    Mehr und mehr fühlt sich, in diesen Tagen der Engelsbesuche und -communiques, Carroll Eventyr als Opfer seiner seltsamen Begabung: seiner "wunderbaren Schwäche", wie Nora Dodson-Truck es einst genannt. Sie hatte sich erst spät gezeigt: er war schon 35, als eines Morgens am Themseufer, zwischen den Kreidewischern der beiden Bilder eines Pflastermalers, Lachsrot im Übergang zu Rehbraun, und einer Gruppe abgemagerter Figuren, deren zerlumpter Jammer in der Entfernung mit dem eisernen Geländer und dem Rauch des Flusses verschmolz, ganz plötzlich eine Stimme aus der anderen Welt durch ihn hindurchsprach, so leise, daß Nora fast kein Wort verstand, auch die Identität der Seele nicht, noch nicht, erkannte, die sich

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