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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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unheimliche Strahlung wieder da ... und ihre Reaktionen sind vorhersehbar: mit einem Schrei, den nur sie selbst und er zu hören vermögen, laufen sie vor ihm davon. Und dabei würde er nichts lieber tun, als sie einmal wirklich zum Schreien bringen ...
    Er fühlt eine Erektion wachsen, er wird sich heute abend wieder in den Schlaf masturbieren, eine lustlose Gewohnheit, eine feste Institution in seinem Leben. Doch welche Bilder werden ihm, kurz vor dem hellen Gipfel, in die Augen stechen? Nichts anderes als die Türme und blauen Kanäle, die Segel und Kirchen von Stockholm -das gelbe Telegramm, das Gesicht einer großen, schönen, wissenden Frau, die sich nach ihm umdreht und ihn beobachtet, wie er die offizielle Limousine besteigt, eine Frau, die ihn später und kaum zufällig in seiner Suite im Grand Hotel aufsuchen wird ... aber natürlich geht's nicht nur um rubinrote Nippel und Hemdhöschen aus schwarzer Spitze. Da erwarten ihn portierenverhangene Türen zu Zimmern, die nach Papier duften, korrespondierende Mitgliedschaften in diesem oder jenem Ausschuß, Lehrstühle, Auszeichnungen ... was könnte sich damit vergleichen! Später, wenn Sie erst älter sind, werden Sie es erfahren hatten sie immer gesagt. Und heute, da er jedes Jahr des Kriegs für zwölf im Frieden rechnet, dämmert es ihm, mein Gott, wie recht sie damit hatten.

Sein Glück, sein dumpfes, subkortikales Glück, dem er sein Überleben verdankt, während andere und bessere als er in den Tod gerissen werden, zeigt ihm die Tür, von der der einsame Theseus in den polierten Korridoren seiner Jahre so oft geträumt hat: den Ausstieg aus den Pawlowschen Doktrinen, der ihm den Ausblick öffnet auf Norrmalm und Södermalm, den Hirschpark und die alte Stadt... Rings um ihn her erwischt es einen nach dem anderen. Im kleinen Kreis seiner Kollegen wird das Verhältnis langsam topplastig, werden die Geister jeden Winter mehr, die Lebenden immer weniger... und bei jedem neuen Abschied glaubt er zu fühlen, daß Zellsysteme auf seiner Großhirnrinde dunkel werden, für immer verlöschen, daß Teile von ihm selbst, wer immer es auch war, an Schärfe und Kontur verlieren und sich zurückverwandeln in schweigende Chemie ... Kevin Spectro hat weniger als er zwischen Außen- und Innenwelt unterschieden. Er sah die Großhirnrinde als eine Schnittstelle, eine durchlässige Membrane, die zwischen Draußen und Drinnen vermittelte und doch Teil von beidem war. "Wenn man die Tatsachen erkannt hat", so fragte er einmal, "wie kann man dann, jeder von uns, noch Einzelwesen sein?" Er ist mein Pierre Janet, hatte sich Pointsman gedacht...
    Bald wird Pointsman, nach der Dialektik des Buches, allein sein, Teil eines schwarzen Feldes, das ins Isotrope schwindet, gegen die Null, wird nur noch darauf warten, daß auch er an die Reihe kommt, als allerletzter ... Bleibt ihm noch Zeit? Er muß überleben ... um nach dem Preis zu greifen, nicht zu seinem eigenen Ruhm, nein - um ein Versprechen einzulösen, das er dem ganzen Team der Sieben gegeben hat, dem er einst angehörte, all jenen, die es nicht mehr geschafft haben -Bildfüllend sieht er sich, von Gegenlicht umgössen, aus dem hohen Fenster des Grand Hotels blicken und sein Whiskyglas in den hellen subarktischen Himmel heben, auf euer Wohl, Freunde, wir alle werden morgen auf der Bühne stehen, N ed Pointsman ist nur zufällig der einzige, der überlebt hat, das ist alles ... NACH STOCKHOLM ist sein Banner und sein Schlachtruf, danach kommt nur noch langes, schemenhaftes, goldenes Dämmern ...
    Früher einmal, o ja, da war er überzeugt, daß ein Minotauros auf ihn wartete: malte sich aus, wie er in den letzten Raum des Labyrinths stürzen würde, das scharfgeschliffene Schwert gezückt, brüllend wie ein Rollkommando, endlich einmal fähig, sich ganz gehenzulassen - ein wunderbares, erstes und letztes Aufblitzen seiner Lebensenergie, während das Gesicht des Stieres sich ihm zuwandte, uralt und müde, ohne den Menschen in Pointsman überhaupt zu sehen, nur bereit, einem weiteren Eindringling einen weiteren Stoß mit dem Horn, Schlag mit dem Huf zu versetzen (doch dieses Mal nicht ohne Kampf, dein Blut, verfluchte Bestie, Schreie tief aus seinem Inneren, deren Männlichkeit und Ungestüm ihn überraschen)... Das war der Traum. Die Szenerie, das Gesicht wechselte, fast nichts außer der Grundstruktur überstand die erste Tasse Kaffee, die erste mattbeige Benzedrintablette. Es konnte ein riesiger Lastwagenpark im Morgengrauen

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