Die Enden der Parabel
Geldrechen liegen fächerförmig ausgebreitet auf den Tischen. Kleine Silberglocken mit Ebenholzgriffen stehen, die Öffnungen nach unten, auf dem rostroten Furnier. Rund um die Tische reihen sich Empirestühle sauber und spielerlos auf. Doch einige von ihnen haben höhere Lehnen als die anderen. Dies sind nicht mehr nur äußerliche, sichtbare Zeichen eines Spiels mit dem Glück. Hier wird ein anderes Geschäft verhandelt, eins, das realer ist und gnadenloser und systematisch verborgen bleibt vor Slothrop und seinesgleichen. Wer nimmt auf diesen Stühlen mit den hohen Lehnen Platz? Haben SIE Namen? Was lastet auf IHREN glatten, boibespannten Oberflächen?
Von oben sickert messingfarbenes Licht herein. Freskomalereien laufen um die Wände des Saals: pneumatische Götter und Göttinnen, pastellene Hirten und Schäferinnen, verschleiertes Blattwerk, flatternde Tücher ... Überall tröpfeln die Schnörkel vergoldeter Stuckgirlanden herab - von Simsen, Leuchtern, Kapitellen, Fensterrahmen... genarbtes Parkett spiegelt unter dem Oberlicht... Von der Decke hängen lange Ketten, die bis knapp über die Tische reichen und Haken an ihren Enden tragen. Wofür sind diese Haken bestimmt?
Eine Minute lang ist Slothrop, in seiner englischen Uniform, hier ganz allein mit diesen Utensilien einer Ordnung, deren Präsenz im alltäglichen Schutt des Wachseins er erst seit kurzem zu ahnen begonnen hat.
Es könnte sich, für einen Augenblick, aus den hellbeigen Lichtern und den braunen Schatten dieses Saals sogar die Illusion einer goldschimmernden, halb wurzel- und fast menschenähnlichen Gestalt gebildet haben - aber so einfach kommt Slothrop nicht davon. Bald wird ihm, widerstrebend, aufgehen, daß alles, was er in diesem Raum sieht, in Wahrheit anderen Zwecken dient. IHNEN Dinge bedeutet, die es uns niemals bedeutet hat. Niemals. Zwei Ordnungen des Seins, die zwar identisch aussehen ... a-aber...
Oh, DIE WELT DORT DRÜBEN, 's ist Schwer zu kapieren! Wie Träume, die sich, im Kopf schon verlieren! Du tanzt wie ein Narr in Verbotenen Sälen Und wartest auf Lichter, die sie erhellen -Wer-warnte-dich: das zu riskieren? Wer-warnte-dich: vor einem Käfig? Sobald's nicht mehr hinhaut, mit deinem Glück, Kannst du doch immer wieder zurück, denn: Kein Lebewohl gilt auf ewig!
Warum gerade hier? Warum sollten sich die regenbogenfarbigen Säume dessen, was ihn fast schon erreicht hat, gerade in diesem
üppig verschlüsselten Raum am sichtbarsten kräuseln? Warum sollte diesen Spielsaal zu betreten beinahe gleichbedeutend sein mit einem Eindringen in das Verbotene selbst? Hier sind die gleichen weitläufigen Fluchten, voll von alter Paralyse und Giftmischerei, von Niederschlag und Bodensatz vergessener Korrumpierung, deren Gestank du fürchtest, Gemächer voll von aufgerichteten, graufiederigen Statuen mit ausgespannten Schwingen und Gesichtern, die unkenntlich sind von dem Staub, der auch die Gestalten der Bewohner hinter den Ecken und tiefer im Inneren in Nebel hüllen, sich auf die Aufschläge ihrer dunklen Anzüge setzen, ihre weißen Gesichter, die gestärkten Hemdbrüste, die Juwelen und Abendkleider wie Zuckerguß ihrer Konturen berauben wird, die weißen Hände, die sich zu rasch bewegen, um noch sichtbar zu sein ... welches Spiel spielen SIE hier? Was für Kartentricks sind das, so verwischt, so alt, so vollkommen? "Geht doch alle scheißen!" wispert Slothrop. Es ist der einzige Zauberspruch, den er kennt, und ein verdammt universeller dazu. Sein Flüstern wird von Tausenden winziger Rokoko-Oberflächen verschluckt. Vielleicht wird er sich heute nacht mit Eimer und Pinsel hier hereinschleichen - nein, nicht bei Nacht -aber irgendwann, und Geht scheißen! in eine Sprechblase schreiben, die er aus dem Mund von einer dieser kleinen rosigen Schäferinnen quellen lassen wird ...
Er schleicht im Rückwärtsgang aus der Tür, so als wäre eine Hälfte von ihm, seine Bauchseite, gebannt von einer königlichen Strahlung: Er konfrontiert und flieht jene Präsenz, die er sucht und fürchtet.
Draußen läuft er zwischen Müßiggängern, tieffliegenden Vögeln und dem pausenlosen Platschen von Möwenscheiße zum Kai hinunter. Mit einem fröhlichen Song durch den Boa-debul-long, als sei nichts gewesen ... Vor jeder Uniform salutiert er, macht es zu einer Reflexbewegung, bloß keinen zusätzlichen Ärger, lieber unsichtbar... von Mal zu Mal knickt der Arm mechanischer gegen den Kopf. Die Wolken von See ziehen rasch höher. Aber auch hier
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