Die Enden der Parabel
Schieber sind von den Straßen verschwunden. Semjawins Wohnung ist tabu, die Waxwing-Leute waren nett zu ihm, wozu sie mit hineinziehen? Welches Gewicht die Besucher in dieser Stadt wohl haben? Kann Slothrop riskieren, in ein anderes Hotel zu gehen? Wahrscheinlich nicht. Es wird kühl. Vom See erhebt sich ein Wind. Er merkt, daß es ihn bis zum Odeon getrieben hat, einem der Grand-Cafes der Welt, dessen Spezialität auf keiner Karte steht und niemals definiert worden ist. Lenin, Trotzki, James Joyce, Dr. Einstein, sie alle saßen hier an diesen Tischen. Was immer es war, das sie gemeinsam hatten: was immer sie von diesem Punkt aus fassen wollten... es hatte vielleicht mit dem Volk zu tun, mit dem Schauspiel prosaischer Sterblichkeit, dem rastlosen Sichkreuzen von Begierden und Verzweiflungen auf einem schicksalhaften Straßenstück ... Dialektiken, Matrizen, Archetypen brauchen alle, von Zeit zu Zeit, die Rückverbindung zu diesem proletarischen Blut, zu Körpergerüchen und bewußtseinslosem Grölen quer über einen Tisch, zu kleinen
Betrügereien und letzten Hoffnungen, soll nicht alles nur bestaubte Drakularität sein, der uralte Fluch des Westens ...
Slothrop beschließt, sich einen Kaffee zu leisten. Er geht hinein und sucht sich einen Platz, von dem aus er die Tür im Auge behalten kann. Fünfzehn Minuten, und schon empfängt er ein Spionenzeichen von einem dunkelhäutigen, gelockten Fremden in einem grünen Anzug, der ein paar Tische weiter sitzt. Auch so ein Türbeobachter. Er hat eine vergilbte Zeitung vor sich liegen, die Slothrop spanisch vorkommt. Aufgeschlagen ist eine merkwürdige politische Karikatur, eine Reihe von mittelalten Männern mit Frauenkleidern und Perücken auf einem Polizeirevier, wo ihnen der Polyp so etwas wie einen weißen Brotlaib entgegenhält ... nein, ein Säugling ist das, mit einem Schild auf der Windel: LA REVOLUCION ... aha, sie beanspruchen das Baby Revolution für sich, alle diese Politiker als keifende Möchtegern-Mütter, und die Karikatur hier soll 'ne Art Prüfstein sein, dieser Bursche im grünen Anzug, der sich als Argentinier namens Francisco Squalidozzi entpuppt, hofft auf eine Reaktion ... die entscheidenden Worte kommen ganz am Ende der Schlange, wo der große argentinische Dichter Leopoldo Lugones sagt: "Nun laßt mich davon singen, wie ich sie unbefleckt von der Erbsünde empfangen habe ..." Gemeint ist die Uriburu-Revolution von 1930. Die Zeitung ist fünfzehn Jahre alt. Unmöglich, zu wissen, was Squalidozzi sich von Slothrop erwartet, was er kriegt, ist jedenfalls die blanke Ahnungslosigkeit. Das scheint jedoch akzeptabel zu sein, und bald ist der Argentinier genügend aufgetaut, um Slothrop anzuvertrauen, daß er und ein Dutzend Kollegen, darunter die internationale Exzentrikerin Graciela Imago Portales, vor ein paar Wochen in Mar del Plata ein betagtes deutsches U-Boot gekapert und es über den Atlantik zurückgeschippert haben, um in Deutschland politisches Asyl zu suchen, sobald der Krieg dort vorbei ist...
"Sagen Sie Deutschland? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Dort herrscht das reine Chaos, Kamerad!"
"Nicht annähernd das Chaos, das wir hinter uns gelassen haben", erwidert traurig der Argentinier. In seinem Gesicht sind tiefe Falten erschienen, gegraben vom Leben neben Tausenden von Pferden, vom Blick auf zu viele todgeweihte Fohlen und untergehende Sonnen südlich von Rivadavia, wo der wahre Süden beginnt ... "Es ist ein Chaos, seit die Obristen übernommen haben. Und jetzt, da Peron nach der Macht greift... die Accion Argentina war unsere letzte Hoffnung", wovon redet er eigentlich, Himmel, ich hab Hunger, "... niedergeworfen einen Monat nach dem Coup ... Im Augenblick warten alle ab. Gehen aus Gewohnheit auf die Straße. Ohne echte Hoffnung. Wir haben beschlossen, das Land zu verlassen, ehe Peron noch ein Portefeuille mehr bekommt. Das Kriegsministerium wahrscheinlich. Die descamisados hat er schon hinter sich, und mit ihnen gewinnt er die Armee, Sie verstehen ... es ist nur eine Frage der Zeit... wir hätten nach Uruguay gehen können, ihn dort überwintern - das ist schon Tradition. Aber vielleicht wird er sich lange halten. Montevideo ist voll von enttäuschten Emigranten und enttäuschten Hoffnungen... "
"Yeah, aber Deutschland - das ist doch das letzte, wo man hin will." "Pero che, no sos argentino..." Ein langer Blick hinaus, durch die an Reißbrettern geschlagenen Narben schweizerischer Prachtstraßen, auf der Suche nach dem
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