Die Enden der Parabel
Ort von Jamfs Grab. Genau dort, so beschließen sie, soll das Material übergeben werden, oben in den Bergen.
Squalidozzi taucht weder in der Kronenhalle auf noch im Odeon oder an den anderen Orten, wo ihn Slothrop in den folgenden Tagen sucht. Plötzliches Verschwinden ist in Zürich nichts Unbekanntes. Dennoch versucht es Slothrop immer wieder, nur um sicherzugehen. Die Botschaft ist auf spanisch abgefaßt, er versteht nur ein, zwei Wörter, aber er will sehen, ob er sie nicht doch noch los wird. Und außerdem, tja, er muß zugeben, die anarchistische Konfession ist nicht ganz ohne Reiz für ihn. Vor anderthalb Jahrhunderten, als Shays in Massachusetts gegen die Bundestruppen kämpfte, gab es Slothropsche Regulatoren, die für die Rebellen durch die Berkshires patrouillierten. Sie hatten sich Tannenzweige an die Hüte gesteckt, um sich von den Soldaten der Regierung zu unterscheiden, die weiße Papierfetzen an den Mützen trugen. Die Slothrops jener Tage waren noch nicht so heftig ins Papier und die Engros-Abschlachtung von Bäumen verstrickt. Sie waren noch fürs lebendige Grün, gegen das tote Weiß. Später verloren oder verschacherten sie das Wissen, auf welcher Seite sie gestanden hatten. Der größte Teil von ihrer lauen Ahnungslosigkeit auf diesem Sektor ist bis auf unseren Tyrone hier gekommen.
Jetzt heult in seinem Rücken der Wind durch Jamfs Gruft. Slothrop hat die letzten Nächte hier oben kampiert, sein Geld ist fast verbraucht, er wartet auf ein Lebenszeichen von Schweitar. Im Windschatten, dicht eingewickelt in ein paar Schweizer Armeedecken, die er organisieren konnte, ist es ihm sogar gelungen, zu schlafen. Genau über Mr. Imipolex. Die erste Nacht hatte er sich vor dem Einschlafen gefürchtet, hatte Angst gehabt vor einem Besuch von Jamf, dessen deutsche Forscherseele vom Tod auf ihre rohesten Reflexe reduziert sein mußte, eine dumpfe, grinsende Schale, deren Boshaftigkeit kein Pardon geben würde ... Stimmen im Mondlicht, zirpend rund um sein Bild, während Schritt für Schritt er, Es, das Verdrängte näher kommt ... momentmalwas, hochschreckend, das nackte Gesicht zu den fremden Grabsteinen gewandt, das was? was war da... und wieder zurück, fast ganz zurück, und wieder hoch... aufschrecken, einnicken, hin und her, die ersten Stunden der Nacht.
Aber der Besuch blieb aus. Jamf scheint weiter nichts als tot zu sein. Als Slothrop am Morgen aufwachte, fühlte er sich, trotz leerem Magen und laufender Nase, besser als seit vielen Monaten. Er schien einen Test bestanden zu haben, niemandes fremden, sondern zur Abwechslung mal seinen eigenen.
Die Stadt unter ihm, jetzt in partielles Licht getaucht, wird zu einer Nekropole aus Kirchturmspitzen und Wetterfahnen, weißen Ziertürmchen, breit hingelagerten Bauten mit Mansardendächern und Tausenden von blitzenden Fenstern. Die Berge sind an diesem Vormittag durchscheinend wie Eis. Später am Tag werden sie sich verwandeln in blaue Haufen von zerknittertem Satin. Der See ist spiegelglatt, doch die Reflexionen der Berge und Häuser im Wasser bleiben seltsam verwischt, die Konturen zart und gekämmt wie Regen: ein Traum von Atlantis, vom Sug-genthal. Spielzeugdörfer, eine verheerte Stadt aus bemaltem Alabaster ... Slothrop hockt sich in die kalte Biegung eines Bergpfads, formt Schneebälle, wirft sie in die Luft, nicht viel zu tun hier oben, außer den letzten Stummel dessen zu rauchen, was die allerletzte Lucky Strike in der ganzen Schweiz sein dürfte ...
Schritte unten vom Weg. Knirschende Galoschen. Es ist Mario Schweitars Bote mit einem großen, fetten Kuvert. Slothrop bezahlt, erkämpft sich eine Zigarette und ein paar Streichhölzer, und der Bote geht. Zurück bei der Gruft, zündet Slothrop ein Häufchen aus Reisig und Fichtenzapfen an, wärmt sich die Hände und beginnt, das Material durchzublättern. Jamfs Abwesenheit umgibt ihn wie ein Geruch, den er kennt, aber nicht zu benennen vermag, eine Aura, die jede Sekunde in einen epileptischen Krampf auszubrechen droht. Die Information ist da -zwar nicht so viel, wie er sich gewünscht hätte (oh, wieviel hätte er denn?), aber doch mehr, als er sich - einer von diesen praktischen Yankees - erhofft hat. In den Wochen, die vor ihm liegen,
in jenen seltenen Momenten, da ihm gestattet sein wird, in seiner Vergangenheit herumzuwühlen, wird er vielleicht sogar Zeit für den Wunsch finden, nichts von alldem jemals gelesen zu haben ...
[2.8] Yang und Ying
Mr. Pointsman hat beschlossen,
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