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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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Bevor noch seine bewußte Erinnerung begann, ergriff ihn etwas und führte ihn aus dem Dorf seiner Mutter, weit draußen im Kakau Veld, bis an die Grenzen des Todeslandes und wieder zurück, ein Aufbruch und eine Wiederkehr... Er erfuhr Jahre später davon. Kurz nach seiner Geburt hatte ihn seine Mutter mit zurück in ihr Dorf genommen, zurück aus Swakop-mund. In normalen Zeiten wäre sie verstoßen worden. Ihr Kind war unehelich geboren, der Vater ein russischer Matrose, dessen Namen sie nicht aussprechen konnte. Doch unter der deutschen Invasion war das Protokoll weniger wichtig, als einander beizustehen. Obwohl die Mörder in Blau wieder und wieder heruntergezogen kamen, blieb Enzian jedesmal verschont. Es ist ein Herodes-Mythos, den seine Bewunderer, zu seiner Verärgerung, noch immer gern zitieren. Er konnte erst wenige Monate zuvor gehen gelernt haben, als ihn seine Mutter mitnahm, um
    sich Samuel Mahereros großem Treck durch die Kalahari anzuschließen. Von den Geschichten, die aus jenen Jahren überliefert sind, ist dies die tragischste. Die Flüchtlinge waren seit Tagen durch die Wüste unterwegs gewesen. Khama, der König der Betschuanas, sandte Führer, Ochsen, Wagen und Wasser, um ihnen zu helfen. Diejenigen, die als erste ankamen, wurden ermahnt, das Wasser nur in kleinen Schlucken zu trinken. Als jedoch die Nachzügler eintrafen, schlief bereits alles. Keiner war da, sie zu warnen. Wieder eine verlorengegangene Botschaft. Sie tranken, bis sie starben, Hunderte von Menschen. Enzians Mutter war unter ihnen. Er war unter einer Kuhhaut eingeschlafen, erschöpft von Hunger und Durst. Er erwachte inmitten der Toten. Man erzählt sich, daß er dort von einer Schar Ovatjimbas gefunden, mitgenommen und gepflegt wurde. Sie setzten ihn am Rand des Dorfes seiner Mutter ab, damit er allein hineingehen konnte. Sie waren Nomaden, sie hätten jede andere Richtung einschlagen können in diesem leeren Land, aber sie brachten ihn an den Ort zurück, von dem er ausgezogen war. Er fand fast niemanden mehr vor. Viele hatten sich dem Treck angeschlossen, manche waren an die Küste verschleppt und dort in Krals zusammengepfercht worden, andere zur Arbeit an der Bahnlinie zwangsverpflichtet die die Deutschen durch die Wüste bauten. Und viele waren gestorben, nachdem sie Fleisch von Rindern gegessen hatten, die an der Rinderpest krepiert waren.
    Keine Wiederkehr. Sechzig Prozent des Hererovolkes waren ausgerottet. Der Rest wurde gehalten wie Tiere. Enzian wuchs in eine von Weißen beschlagnahmte Welt hinein. Gefangenschaft, plötzlicher Tod, Reisen ohne Aussicht auf Rückkehr waren Dinge des Alltags. Zu der Zeit, da ihm die Frage erst bewußt wurde, war es ihm unmöglich geworden, sein eigenes Überleben zu begreifen. Er konnte nicht an einen Prozeß der Auswahl glauben. Ndjambi Karunga und der Gott der Christen waren beide viel zu fern. Es gab keinen Unterschied zwischen dem Verhalten eines Gottes und den Auswirkungen des puren Zufalls. Weißmann, der Europäer, dessen Protege er wurde, glaubte immer, daß er es gewesen sei, der Enzian den Religionen abspenstig gemacht habe. Doch die Götter waren von selbst gegangen: die Götter hatten das Volk verlassen ... Er ließ Weißmann glauben, was er wollte. Der Durst dieses Mannes nach Schuld war unersättlich wie der Wüste Durst nach Wasser. Jetzt ist es schon lange her, daß die beiden Männer einander gesehen haben. Es war während der Verlegung von Peenemünde hier herunter in die Mittelwerke, als sie zum letztenmal miteinander sprachen. Inzwischen ist Weißmann wahrscheinlich tot. Schon in Südwest, vor zwanzig Jahren, noch ehe er seine Sprache sprechen lernte, hat Enzian soviel verstanden: daß in Weißmann eine Liebe war zur letzten Explosion, dem Sicherheben und dem Heulen, das jegliche Angst übersteigt ... Warum sollte Weißmann den Krieg überleben wollen} Sicher hatte er etwas gefunden, das großartig genug war, seinem Durst zu genügen. Es konnte für ihn nicht rationalisiert und lasch geendet haben wie seine hundert gläsernen Büros in der Runde des SS-Schaltkreises - alle so in Zeit und Raum geordnet, daß sie die Größe stets knapp verfehlten, immer nur ihr Vakuum erreichten, ein Stück von ihrem Sog mitgezogen wurden und endlich doch zwischen ein paar blind gewordenen Pailletten ihres Kielwassers liegenblieben. Bürgerlichkeit, gespielt zu Wagner, das Blech luftlos und höhnisch, die Streicherstimmen in verschobenen Phasen... Während der Nächte hier unten

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