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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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AUGENBLICK ALS DIE RAKETE FIEL zerschmissen weiß und blau zu Scherbenklirren auf dem Boden ... Die Todesraketen gehören jetzt der Vergangenheit. Diesmal wird sie am anderen Ende sein, am Drük-ker, zusammen mit Jeremy - ist es nicht genau das, was immer schon sein sollte? Schüsse aufs Meer hinaus, kein Sterben, nur das Schauspiel, Flammen und Gebrüll, die Spannung ohne das Töten, ist es nicht das, worum sie gebetet hat? Damals, in dem verblassenden Haus, das inzwischen wieder freigegeben ist, wieder besetzt von den menschlichen Anhängseln der Troddelposamenten, Hundebilder, viktorianischen Sitzmöbel, heimlichen Stöße von News of the World im Schrank im Oberstock.
    Man will, daß sie geht. Die Befehle kommen von weiter oben, als ihr Begreifen reicht. Ihre Zukunft liegt bei der Zukunft der Welt selbst, die Rogers nur bei dieser seltsamen Version von Krieg, die er noch immer mit sich rumschleppt. Er kann sich nicht frei bewegen, der arme Junge, es läßt ihn nicht los. Er ist noch genauso passiv, wie er's unter den Raketen war. Roger, das Opfer. Jeremy, der Schütze. "Der Krieg ist meine Mutter", hatte er gesagt, gleich am ersten Tag, und Jessica fragte sich damals, was für schwarzgewandete Damen wohl in seinen Träumen herumspuken mochten, was für ascheweißes Lächeln, welche Schnitterinnen, um sichelnd durchs Zimmer zu geistern, durch ihren gemeinsamen Winter... soviel an ihm, das sie nie erfahren hat... soviel, das ihm den Frieden verwehrt. Schon beginnt sie, sich der Zeit, die sie zusammen verbracht haben, als einer Kette von Explosionen zu erinnern, Tollheit im Gleichtakt mit dem Rhythmus des Kriegs. Und jetzt will er also Slothrop retten, noch so ein Geschöpf der Rakete, ein Vampir, dessen Liebesleben sich buchstäblich vom Grauen des A4 genährt hat - pfui Teufel. Gruslig, gruslig. Einsperren sollte man so einen, statt ihn befreien zu wollen. Aber Roger muß sich ja wohl mehr um Slothrop sorgen als um sie, schließlich sind die beiden von der gleichen Sorte - ja, sie hofft nur, daß sie glücklich werden miteinander. Sie können zusammenhocken und Bier in sich hineinschütten und sich Raketengeschichten erzählen, einander Gleichungen vorkritzeln. Einfach herzerwärmend. Immerhin wird sie ihn nicht in einem Vakuum zurücklassen. Er wird nicht einsam sein, er wird was haben, um sich die Zeit zu vertreiben ...
    Sie hat sich von ihm entfernt, schlendert vor ihm über den Strand. Die Sonne scheint so grell, daß die Schatten ihrer Achillessehnen scharfe schwarze Nähte auf die Fersen der Seidenstrümpfe zeichnen. Ihr Kopf, wie immer, ist leicht vorgeneigt, von ihm weggewandt, der Nacken, den zu lieben er nie aufhören, den er nie wiedersehen wird, so ungeschützt wie ihre Schönheit, entblößt wie die Arglosigkeit, mit der sie ihn durch die Gefahr der Welt trägt. Weniges mag sie wissen, mag sich selbst, ihren Körper, ihr Gesicht, für "hübsch" halten... doch niemals könnte er ihr den großen Rest erklären: wieviel Lebendiges, wie viele Vögel, gras- und regenduftende Nächte, wie viele sonnenhelle Augenblicke schlichten Friedens in das eingegangen sind, was sie für ihn bedeutet. Bedeutet hat. Er verliert mehr als nur die eine Jessica - er verliert ein ganzes Potential des Lebens, einen Frieden mit der Schöpfung, den er erst dieses eine Mal gemacht hat. Es geht zurück in den Winter für ihn, zurück in die alte, enge Schublade. Die Anstrengung, sie nochmals aufzustoßen, ist mehr, als er alleine leisten kann.
    Er hatte nicht geglaubt, daß er weinen würde, als sie ging. Aber er weinte. Rotz eimerweise, Augen wie rote Nelken. Bald spürte er bei jedem Schritt, mit dem sein linker Fuß den Boden berührte, einen stechenden Schmerz quer durch den halben Schädel. Aha, das war es also, was man "Trennungsschmerz" nennt! Pointsman deckte ihn armvollweise mit Arbeit ein. Roger merkte, wie er Jessica nicht vergessen konnte und sich weniger um Slothrop zu sorgen begann.
    Doch eines Tages platzte Milton Gloaming in sein Büro und riß ihn aus der Erstarrung. Gloaming war frisch von einer Spritztour durch die Zone zurück. Er hatte in einem Sonderkommando mit einem Josef Schleim zusammengearbeitet, einem Überläufer zweiter Güte, der früher im Amt von Dr. Reithinger für die I.G. gearbeitet hatte, bei der VOWI, der statistischen Abteilung von NW 7. Dort war Schleim für die amerikanischen Angelegenheiten zuständig gewesen, betraut mit der Nachrichtenbeschaffung aus Industrie und Wirtschaft, für die

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