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Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
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unsichtbar. Kein anderes uns bekanntes Reagens unter jenen, die bei nachrichtendienstlichen Einsätzen zur Verfügung stehen, ist in der Lage, die Umwandlung von "Kryptosam" in sichtbares Melanin zu bewirken. Bei kryptographischen Anwendungen ist darauf zu achten, daß der Botschaft ein geeigneter Stimulus beigegeben wird, der mit hinreichender Sicherheit Erektion und
    Samenerguß provoziert. Eine eingehende Kenntnis des psychosexuellen Verhaltensbildes des Adressaten erscheint hierfür von unschätzbarem Nutzen.
    - PROF. DR. LASZLO JAMF, "Kryptosam" (Werbebroschüre), Agfa, Berlin, 1934
    Eine fein ziselierte Federzeichnung auf schwerem, chamoisfarbenem Papier, im Stil von Bayros oder Beardsley nachempfunden, darüber in gotischen Lettern der Aufdruck GEHEIME KOMMANDOSACHE. Die Frau ist ein perfektes Double von Scorpia Mossmoon. Das Zimmer gleicht jenem, von dem sie oft gesprochen, doch das sie nie gesehen haben, ein gemeinsamer Traum, in dem sie gern einmal gelebt hätten, mit einem vertieft eingelassenen Bassin und einem Zelt aus Seide, das von der Decke herabfließt - eigentlich eine DeMille-Kulisse, schlanke Dienerinnen mit ölglänzender Haut, ein Hauch von Mittagslicht, das von oben hereinsickert, Scorpia hingestreckt auf weichen Kissen, bekleidet mit genau dem Korselett aus belgischer Spitze, genau den schwarzen Strümpfen und Schuhen, von welchen er oft genug mit offenen Augen geträumt hat, aber niemals Nein, natürlich hat er ihr nie davon erzählt. Ihr nicht und auch niemand anderem. Wie jeder junge Mann, der in England aufwuchs, war er konditioniert worden, auf bestimmte Fetische mit einem Ständer zu reagieren, und dann, sich seiner neuerworbenen Reflexe zu schämen. Konnte es sein, daß irgendwo ein Dossier existierte, daß SIE (SIE?) auf irgendeine Weise alles überwacht und registriert hatten, was er seit seiner Pubertät gesehen und gelesen hatte? Woher sollten SIE sonst wissen...
    "Pssst", flüstert sie. Ihre Finger gleiten aufreizend langsam über ihre langen, olivfarbenen Schenkel, die bloßen Brüste schwellen aus dem Mieder. Ihr Kopf ist in den Nacken zurückgeworfen, doch die Augen lassen Pirats Blick nicht los, mandelförmig, schmal vor Lust, zwei Lichtpunkte, schimmernd hinter langen Wimpern ... "Ich werde ihn verlassen. Hier werden wir leben, von nun an, hier werden wir uns lieben, unaufhörlich ... ich gehöre zu dir, oh, ich weiß es schon so lange ..." Sie leckt sich mit der Zunge über ihre spitzen kleinen Zähne. Ihre pelzige Möse liegt im Brennpunkt des Lichts, und in seinem Mund ist ein Geschmack, den er wiederfinden möchte ...
    Tja, beinahe schafft's Pirat nicht mehr, er hat den Schwanz kaum aus der Hose, da spritzt er auch schon los und überall herum. Es bleibt ihm gerade genug Sperma übrig, um das blanke Kärtchen zu bestreichen, das der Zeichnung beigefügt war. Und langsam, eine Offenbarung durch einen Perlmuttfilm von Sperma, erscheint, dunkelbraun wie Negerhaut, die Botschaft: chiffriert durch simple, nihilistische Vertauschungen, deren Schlüsselwörter er fast raten kann. Das meiste erledigt er im Kopf. Eine Zeit ist gegeben, ein Ort, eine Bitte um Unterstützung. Er verbrennt die Botschaft, die aus Höherem als dem Luftmantel der Erde zu ihm herabgestürzt ist, die er geborgen hat an der Erde allererstem Meridian, steckt das Bild ein, hmm, und wäscht sich die Hände. Seine Prostata schmerzt. Da steckt mehr dahinter, als er im Augenblick übersehen kann. Doch Einspruch und Berufung stehen ihm nicht zu: er muß hinüber, muß die Kollegin rausholen. Die Botschaft ist soviel wie ein Befehl von höchster Stelle.
    Weit weg, hinter dem Regenvorhang, die Detonation einer deutschen Rakete. Die dritte schon heute. Sie durchkämmen den Himmel wie Wotan und sein wütendes Heer.
    Mit mechanischen Händen beginnt Pirat, in Schubladen und Aktenmappen nach den nötigen Dokumenten und Formularen zu suchen. Kein Schlaf heute nacht. Wahrscheinlich nicht mal Zeit für eine Zigarette oder etwas Heißes unterwegs. Warum?

[1.12] DIE 'WEISSE VISITATION'

    In Deutschland, dem Ende entgegen, lautet der Text auf den allgegenwärtigen Mauern WAS TUST DU FÜR DIE FRONT, FÜR DEN
    SIEG? WAS HAST DU HEUTE FÜR DEUTSCHLAND GETAN? Bei der "Weißen Visitation" lautet der Text auf den Mauern Eis. Eisige Graffiti aus sonnlosen Tagen glasieren die blutigbräunlichen Ziegel und die Terrakotta, so als sollte das Gebäude in einer Museumshaut aus klarem Kunststoff der Witterung entzogen und als

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