Die Enden der Welt
Erfahrungen der Europäer bitterer, weil auch die Erfahrungen der Einwohner von Tonga mit den Ankömmlingen bittere gewesen waren und weil ein rund fünfzigjähriger Bürgerkrieg, der erst 1852 endete, die Insel mit Schrecken überzogen hatte. Zwei Drittel der Bevölkerung soll damals getötet, selbst Kannibalismus vorgekommen sein, und noch heute fragen Kulturhistoriker, die sich für das Schicksal der paradiesischen Inseln interessieren: Wo stammt sie her, die Gewalt? Warum immer wieder diese Ausbrüche von Rohheit mitten in der friedlichen Welt?
Kapitän Cook suchte sich die schönste Bucht für seine Landung aus, eigentlich ein ganzes System von Buchten und Landzungen, mit Flecken von hellblauem Wasser, in dem dunkle Algenbüschel treiben, hinaus in das graue und strahlend blaue, erleuchtete und trübe Wasser. Das Buschwerk am Ufer ist dicht verstrüppt, doch auf der Spitze jeder Landzunge öffnet sich ein Palmenhain. Noch heute ist dies eine Landschaft, die fast keine Spuren menschlicher Arbeit zeigt, liegt sie doch wild da, bis auf den kleinen Fleck, den man im Gedenken an James Cook befreit und gereinigt hat und wo ein Baum eine Manschette trägt mit der Aufschrift: »Hier stand der große Banyan-Baum Malumalu’o Fulilangi, unter dessen Krone Kapitän Cook landete.«
Wir sind andere Reisende. Wir ringen den Eindruck nicht mehr der Gefahr ab, selten der Unbequemlichkeit, und sollten wir zufällig einmal zu den Ersten gehören, dann weil Regierungen eine Landschaft lange für geschlossen erklärten – Birma, Murmansk, Kamtschatka, Bhutan, die Verbotene Stadt im Zentrum von Peking – oder weil Kriege sie unzugänglich machten. Das Gute daran ist, wir können nicht mehr allein dem Augenschein trauen. Während frühere Reisende sagen konnten, wie Länder leben, wie sie sind, können wir allenfalls feststellen, wie sie jetzt leben, wie sie in unserem Kopf, in der Konfrontation mit unserer Individualität erscheinen.
Auf dem Flug von Sydney nach Tonga sitze ich am Gang, May, eine einheimische junge Frau im ärmellosen Hemd an meiner Seite. Sie hat die kräftigen braunen Hände übereinander in ihren Schoß gelegt und sieht feierlich aus dem Fenster. Ihr Gesicht ist breit mit lauter runden Einzelformen, die Nase, das Kinn, die Wangenknochen … und ihre Arme sind so glatt, dass der Abendhimmel über dem Meer seinen letzten Widerschein, einen Widerschimmer, auf diesen Armen findet, auf denen sich das Himmelsgraublau mit dem Braun ihres Teints zu einer namenlosen Farbe mischt.
Es ist fast Mitternacht, als wir die Gangway hinuntersteigen, durch den warmen Wind der polynesischen Insel auf das Flughafengebäude zulaufen und zum ersten Mal die Wasserwürze der Luft schmecken. Auf beiden Seiten des kleinen geweißten Würfels, in dem die Flughafenverwaltung untergebracht ist, drängen sich massige Gestalten, Rufende, Winkende, und schon von der Gangway krakeelt und winkt es zurück. Die Koffer werden von einem Rachen in der Mauer ausgespuckt und von einem besessen, aber unvernünftig Arbeitenden aufgestapelt, sortiert, gegen den Zugriff der Besitzer verteidigt. Der Zollbeamte gibt sich einen düsteren, autoritären Anschein, aber was soll er machen? Wir sind nun mal da, zurückschicken könnte er uns nicht so leicht, und ein paar hundert Kilometer Südpazifik bis zum nächsten Festland sind schließlich auch eine Art Festung.
Draußen sammeln sich ein paar versprengte Fremde zur Fahrt mit einem Gemeinschafts-Minivan in den Ort: ein übelgelauntes französisches Ehepaar, ein Heimkehrer ohne Verwandtschaft, eine Frau im Rollstuhl, die munter erzählt, dass sie vor ihrem Tod noch einmal auf die Insel ihrer Geburt wolle, und ein australisches Paar, er mit glasigem Alkoholikergesicht, sie mit dem rotunden Kopf der nativen Tonganerin. Die Französin hustet und befiehlt ins Leere, ihr Mann sieht, weil es ihm peinlich ist oder weil sie schon zu zerstritten sind, mit dem blasierten Ausdruck eines Mannes zu, der Wichtigeres zu tun hat, als nächtlich auf einem pazifischen Flughafen anzukommen.
Dann setzt ein freundlicher warmer Regen ein, und der Fahrer aus Haiti reduziert die Geschwindigkeit von vierzig auf dreißig Stundenkilometer. So schleichen wir durch die Nacht, in einen nächtlichen Gauguin hinein. Denn ja, so stehen sie in seinen Bildern, die Palmen – nicht in Gruppen, nicht in Spalieren, nicht in Wäldern, sondern versprengt über die Landschaft, als müsse sich ihrer Willkür jede andere Vegetation beugen,
Weitere Kostenlose Bücher