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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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vielleicht seit Jahren nicht. Nur ein blauer Plastikstuhl ist stehen geblieben, mit Blickrichtung zur jenseitigen Steppe. Man dreht sich um, und gleich darauf will man schon sagen: Ich habe mir diesen Ort nur eingebildet.
    Eine spitzwinklige Formation Zugvögel wechselt in diesem Augenblick ihre Ordnung über dem Fluss. Demnächst soll hier eine Brücke gebaut werden. Nur afghanische und russische Soldaten haben sich vehement dagegen aufgelehnt, der alten Feindschaft wegen, aber auch weil sie so gut wie die Ordnungskräfte wissen, dass diese Brücke niemandem so gelegen kommt wie den Drogenschmugglern.
    Und wer blickt nicht nach dort, wo flussabwärts noch karge Goldvorkommen die Wäscher anziehen oder wo das Rohopium verarbeitet wird, das allein durch die Überquerung des Flusses ein Mehrfaches seines Wertes gewinnt? Dreitausend Dollar kostet ein Kilo auf dieser, der afghanischen Seite des Amu-Darja, zehntausend auf der dort drüben, die kaum fünfhundert Meter entfernt liegt, und niemand soll glauben, Tadschiken und Afghanen machten diesen Handel unter sich aus.
    Einer der Einflussreichsten hier ist amerikanischer Staatsbürger. Genaueres will keiner wissen oder sagen. Nur seinen Spitznamen geben zwei Einheimische preis: »der weiße Ibrahim«. Einer der Afghanen, die sich uns angeschlossen haben, erzählt mir von einem deutschen Diplomaten, der in seinem Gepäck unentdeckt siebzehn Kilogramm Opium schmuggelte, besprüht mit einem bestimmten, den Drogenhunden unerträglichen Parfüm.
    »Woher wissen Sie das?«
    »Weil ich der Verkäufer war.«
    Auf der Rückseite der Landschaft angekommen, folgen wir ihrem Imperativ und wenden uns ab, drehen uns um, machen kehrt. Es ist ein vielfaches Wegwenden von einer Landschaft, die endet, die einen Strich zieht mit dem Namen Amu-Darja. Es empfängt uns die Steppe in all ihrer Pracht der Verödung.
    Die Nacht macht sich breit. Ist das jetzt die stillste Stille? Sie wirkt, als habe jemand eine Glasglocke von der Steppe genommen und eine Sphäre eingelassen, die von oben kommt und noch viel weiträumiger und feierlicher still ist. Reine Atmosphäre mischt sich in das Schweigen. Etwas schwingt hinein wie atemlose Erwartung. In den nach oben geöffneten Schweigeraum dringt nun von unten ein einzelnes, sehr fernes Hundebellen, das nur angestimmt wird, um das Schweigen fühlbarer zu machen.
    Das Schweigen der Steppe: Wenn man in der Ferne ein Geräusch hört, ist man bei diesem Geräusch, also in der Ferne. Steht die Steppe aber still, ist man nur noch beim eigenen Atem, bei den eigenen Schritten. Also ist man ganz bei sich. Dort ist man selten.

Tonga
    Tabu und Verhängnis
    Schwarze Wolken seien über dem Pazifik aufgestiegen, das Meerwasser habe weiß sprudelnd gekocht, die Fischerboote und Fähren hätten die Buchten gesucht und die Menschen an den Ufern kniend gefleht. In die Kirchen seien sie geströmt und hätten gebeichtet, und mancher Pfarrer habe den »Jüngsten Tag« beschworen, heißt es. Und das hier, in der Hauptstadt Nuku’alofa, die ihrem Namen nach das »Zuhause der Liebe« ist!
    »Gerade drum«, sagt der Alte, der mir erzählt, wie es war, als es im März 2009 zum Ausbruch eines der insgesamt 36  Untersee-Vulkane kam, der das Wasser des Pazifik erhitzte und Fontänen aufsteigen ließ, die sich schwefelgelb in der Luft zerstäubt hätten.
    »So ist das nun mal auf dem Pazifischen Feuerring«, sagt er nicht ohne Stolz auf jenen Vulkangürtel, der das Leben der Einwohner von Tonga auf elementare Weise bestimmt.
    Schließlich liegt dieses Königreich nur wenige Zentimeter über dem Meeresspiegel. Nicht weit von hier gähnt in östlicher Richtung der 10   882 Meter tiefe Tonga-Graben, wo die Pazifische Platte der Erdkruste jährlich bis zu 24  Zentimeter weit unter die Australische Platte taucht und das Inselreich mit Tsunamis bedroht. Es wird obendrein von Wirbelstürmen mitunter so gefährdet, dass man auf dem Festland manchmal viele Tage keine Nachrichten von den heimgesuchten Inseln hat und oft lange nicht weiß, wie groß die Zerstörungen sind.
    »Warum heißt Nuku’alofa das Zuhause der Liebe?«
    »Das ist schwer zu sagen«, erwidert der Alte ohne die Absicht, den Satz zu verlängern.
    169 Inseln und zwei Riffe sind es, die man das »Königreich Tonga« nennt und denen James Cook 1774 den Namen »Freundschaftsinseln« oder auch »die freundlichen Inseln« gab. Das waren sie offenbar, jedenfalls bis zum Anfang des 19 . Jahrhunderts. Danach färbten sich die

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