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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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wieder, glühend wie ein Toaster, danach aber verschwand sie endgültig. Gemächlich kam der Tag und ein wenig lustlos. Unentschieden, in eine eindeutige Stimmung zu finden, schwankte er orientierungslos wie ein gerade Aufgewachter, noch ganz im Schleier der Nacht, und schrieb jetzt eine andere Ursituation des Südpazifiks auf seine Menükarte: die Vorbereitung des tropischen Regens.
    Trotzdem erfasst mich mit dem ersten Schritt ins Freie der Swing des Ortes, sein schönes Phlegma rund um eine Uferpromenade, die keine ist – Hafenanlagen mit verfallenden, in breiten Rostschuppen zerblätternden Schiffen, in deren Schlepptau noch jüngere, kleinere, auch zerfallende hingen. Ein Sich-Gehen-Lassen, ein Abwarten und Geschehenlassen ist in der Luft, ein Ausgesetztsein und Durchlässigwerden für die Arbeit der Zeit. Müll überall, aber wie sollte es auch anders sein, ergreift ihn doch der Wind, rafft ihn von den Essenstischen wie aus den Überhängen der Tonnen, aus Kinderhänden und von den Ufersteinen. Eine solche Dichte des Unattraktiven ballt sich, dass mir die Augen übergehen und ich immer tiefer in die dunkel aufziehende Wolkenwand hineinlaufe, bis der Regen wirklich fällt, satt, warm und unaufhörlich, und ich bei drei dicken, freundlichen Frauen unter einer Plane Zuflucht finde. Wir besorgen uns vier Kokosnüsse und trinken sie nickend.
    Jeden Morgen gehe ich nun zwanzig Minuten zu einem kleinen »Beach Café«, wie es sich nennt, auch wenn weit und breit kein »Beach« zu sehen ist, allenfalls eine schäbige Mole, an der ein paar halbverrostete Kähne ankern und andere wieder instand gesetzt werden. Jeden Morgen mache ich das Gleiche, nicht bloß um des Rituals willen, sondern auch, weil ich sehen will, was sonst noch jeden Morgen so passiert. Es gibt keinen besseren Zugang zur Routine eines Ortes, als selbst routiniert in ihm zu sein.
    Außerdem sitze ich gern auf der winzigen, stürmischen Wellblechveranda, trinke Kaffee, ein Melonen-Ananas-Saftgemisch und esse gebutterten Toast mit Orangenmarmelade. Die Wirtin ist in der Regel streng mit mir und sagt lauter »Good bye« als »Good Morning«. Aber als heute im Radio »New York New York« lief, da schaukelte sie mit ihren zwei Zentnern Schwungmasse, sang laut »If you can make it there, you’ll make it anywhere«, und es gab auf der ganzen Welt niemanden, dem die Zeile hätte ferner sein können als ihr.
    Dann kam sie an den Tisch und fragte, woher ich käme, nein, woher und warum ich genau bis an diesen Tisch gekommen sei. Ich sagte:
    »If I can make it to here, I can make it to anywhere.«
    Da lachte sie, legte mir die Hand auf die Schulter und ließ sie da, während sie ihren Freunden hinter mir alles in kehliges Tongaisch übersetzte. Dann drehte sie sich wieder zu mir und fragte:
    »Are you alone?«
    »Aren’t we all?«, erwiderte ich, weil ich dachte, wir hätten unseren Sound gefunden.
    »No«, antwortete sie brüsk, und als ich mit einem Blick weiter fragte: »The Lord is always with us.«
    »O sorry, den hatte ich vergessen«, erwiderte ich.
    »Das sollten Sie nie«, mahnte sie.
    Ich versprach es.
    Vom Nebentisch her schickte mir eine grellrot gekleidete Siebzigjährige mit Goldschmuck im Ohr ein duldsames Achselzucken.
    »So ist das hier«, sagte sie. »Sie haben doch gesehen: alles voller Kirchen und am Sonntag drei Messen, alle voll. Hier wird noch geglaubt.«
    Da sie es offenbar nicht mehr tat und mich auch nicht bekehren wollte, ging ich hinüber an ihren Tisch, gab ihr die Hand und sagte meinen Namen. Kerry, die ehemals Anthropologin gewesen war und sich inzwischen zusammen mit ihrer Freundin als Kriminalautorin durchgesetzt hatte, sagte »pleasure« und winkte eine einheimische Frau heran, die in einem dicken Sportwagen vorgefahren war:
    »Dorothy, darling, it isn’t yourself, back from the islands!«
    Ich kehrte zu meinem Tisch zurück. Von hier aus konnte ich sie alle sehen: die Alte, die gebückt in der auslaufenden Gischt stehend die Reusen einholt; den Lastwagen, der auf seiner Ladefläche ausschließlich Soldaten und blaue Plastikstühle transportiert; den Greis, der eine Steinplatte über einem Kanalschacht anhebt und mit der Hand hinuntertaucht; die riesige Lastwagenfahrerin, die über ihrem Lenkrad ein Kreuz schlägt; »Cassiopeia’s Café«, aus dem Männer mit dicken Hochfrisuren und in Röcken nach außen treiben, während die Frauen mit ihren majestätischen Köpfen beim Lachen die Goldzähne entblößen; eine Bäuerin, die

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