Die Enden der Welt
Flüchtlingslagern hinter sich gelassen haben und nun mit zweitausendfünfhundert Familien ohne Strom an einer Straße im Norden Afghanistans ihr Leben entfalten sollen. Sie lächeln ihr schönstes Lächeln, aber es ist in seiner Schönheit schon versetzt mit Spurenelementen von Fatalismus:
»Es ist so langweilig hier«, sagt der Jüngste. »Ich habe die Nase voll vom Leben.«
Aus den Viehkoppeln und von den Reisfeldern drängen sie nun heran, die Kleinen mit ihren Witwengesichtern, wie im Pyjama daherkommend, aufmerksam, aber reif wie lauter angewelkte Knospen. Wer spricht vom unentdeckten Potential dieser Kinder? Fragt man sie nach dem, was wir »Freizeit« nennen, staunen sie. Das Wort muss man erklären, und »spielen« können sie kaum unterscheiden von »essen« oder »Tiere hüten«.
Eines der Kinder schmiegt sich an seine Mutter wie ein Kitz. Jungtiere drücken ihre Liebe noch aus, als sei sie lebensnotwendig. Nichts ist an diesem Kind, was nicht wäre wie bei einem jungen Tier, das in seiner Zärtlichkeit nicht erfahren wirkt, sondern bedürftig wie am ersten Lebenstag.
Doch weiter. Wenn man dem Verlauf dieser Straße folgt, kommt man bis nach China. Wir überqueren den »Drei-Wasser-Fluss«, passieren die Reisterrassen, die Okra-Felder, die Mulden, in denen Kamele und Schafe getränkt werden. Wir biegen in Staubstraßen ein, auf denen kleine Mädchen zur Schule laufen, und auch wir sind auf dem Weg zu dieser Schule, die heute achthundert Kinder aus zwölf Dörfern aufnimmt. Alle diese Kinder müssen in der Landwirtschaft mithelfen, dem Vater sein Essen aufs Feld bringen, die Tiere versorgen. Manche gehen eine volle Stunde, bis sie das Schild erreicht haben, das am Schuleingang steht und die Inschrift trägt: »Wissen und Können bringen den Menschen weiter«. Was soll aus diesen Kindern werden, was aus den Menschen, die sich von den Detonationen des Krieges erschüttert, zerstört, getötet oder in die Flucht geschlagen finden? Sie müssen weiter verarmen, ihre Ernten werden dürftig, die Rohstoffe knapp und ihre Dorfgemeinschaften zu Schwärmen werden.
Das Pastell des Sonnenuntergangs wuchert über der Steppe: Allein gegen das Opalisieren des Himmels steht der Kameltreiber mit seinen elf Tieren, das jüngste ist zwei Jahre alt, das älteste sechs. Wir gehen im Spülicht der frühen Dämmerung auf ihn zu.
»Ai ha!«
Die Tiere verzögern ihre Bewegung, blicken sich nach ihrem Treiber um, traben weiter.
Er steht auf seinen Stab gestützt und schenkt uns den gleichen Hirtenblick wie seinen Tieren. Ja, die haben alle einen unterschiedlichen Charakter, auch Launen. Nein, nicht immer kommt er mit: Wenn sie zu traben beginnen, läuft er ihnen manchmal hinterher. Gerade im Winter werden sie sehr temperamentvoll, schlagen aus und beißen sich gegenseitig. Dann muss man aufpassen, dass sie keinen Schaden nehmen. Nein, Feinde haben sie nicht, außer den Minen, die Schakale trauen sich nur an kleinere Schafe, und die Schlangen können ihnen auch nichts anhaben.
»Niemand kann ein Kamel besiegen!«
Inzwischen sind die Tiere langsam auf und davon gegangen.
»Haben Sie keine Sorge, dass Sie Ihre Tiere verlieren, während wir hier reden?«
Sein Blick geht geduldig in das Graublau der dämmernden Steppe. Dann schüttelt er bloß den Kopf.
Gut zehn Minuten später rafft er seinen Mantel und entschuldigt sich, nun müsse er sich um die Tiere kümmern. Dann geht er in die entgegengesetzte Richtung davon. Erst jetzt erfahren wir, dass er gleichzeitig auch eine Schafherde hütet, die längst außerhalb unseres Gesichtskreises grast. Er war zu höflich, uns ohne ein Wort am Weg zurückzulassen. Im Gehen dreht er sich noch einmal um:
»Ihr wollt den Amu-Darja sehen, nicht?«
»Ja.«
Im Weitergehen nickt er und nickt.
Die Sonne hat jetzt am Horizont nur noch einen orangegrauen Schimmer hinterlassen. Die Kamele traben in den nachtschwarzen Winkel des Himmels, der Hirte hält sich an die lichteren Zonen. Jetzt kommt die Nacht mit einem Schweigen nieder, das auch die Hunde dämpft und das Blöken der Kamele wattiert, deren Hufe auf dem federnden Boden keinen Abdruck und keinen Laut hinterlassen. Der Neumond kommt heraus, und Nadia sagt:
»Am ersten Tag des Neumonds in der Steppe, da küsst man sich die Fingerspitzen und wünscht sich was.«
Wir tun es.
Am nächsten Tag erreichen wir nicht weit vor dem Ende der Straße einen heruntergekommenen Posten, wo ein Grenzsoldat bei einer Hütte wartet. Es ist ein Lädchen
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