Die Enden der Welt
zwischen diesen Mauern entfaltet, für nicht lebenswertes Leben, lautstark, sie soll es ruhig hören.
Und die Winter? Sie erzählt von den Wintern, in denen es so kalt ist, dass man sich immer nur für kurze Strecken draußen bewegt und selbst den Gang zum Einkaufen in Etappen teilt. Für diese sieben Monate werden auf den Straßen sogar Unterstände errichtet, damit man sich rasch wärmen kann. Gewiss, manchmal wird zu dieser Zeit zu viel Wodka getrunken, aber deshalb postieren sich in den Türeingängen Polizisten, die zu Hilfe kommen, sollte jemand gewalttätig werden. Doch ist die Gewalt nicht viel schlimmer als in anderen großen Städten, und größer ist immer noch die Angst, dass die Nahrungsmittel knapp werden könnten.
»Erlauben Sie, dass ich huste«, hechelt der Berliner und hustet. »Ich weiß, was hier abgeht: Hoch die Tassen und Prost Gemeinde, der Vorstand ist besoffen!«
Wir nähern uns dem Hafen, ein altes Atom-Sperrgebiet, das heute wie ein Schiffsfriedhof daliegt, besetzt von rostenden Lastkähnen, Militärbooten, Schleppern, Eisbrechern. Den Straßenrand säumen Polizisten, die jung sind und schon finster, und dann stehen diese hochbeinigen, an Insekten erinnernden Kräne im Hafen. Sie residieren. Darunter ducken sich die wild zusammengeschweißten Metallplastiken der Schiffe wie Skulpturen von Tinguely.
Der leuchtend rot gestrichene Atomeisbrecher »Yamal« ist das Prachtstück unter den tristen Militärbooten in diesem Hafen. Man hat dem Koloss zu beiden Seiten des Bugs das grinsende Gebiss eines Hais aufgemalt, ein Kindereinfall, der das schwimmende Atomkraftwerk in eine Art Match-Box-Dampfer verwandelt. Der Aufgang zum Deck ist ein diagonal am Schiffsbauch heraufführender Steg. Am oberen Ende wartet, vollbärtig und heiter, Viktor Boyarski und reicht jedem die Hand. Als er Marga sieht, bleibt sein Gesichtsausdruck stehen. Dann streckt er die Hand am langen Arm aus und schüttelt die ihre besonnen. Erkannt hat er sie, ein herzliches Wiedersehen sieht trotzdem anders aus.
Der Nachtschlaf schmeckt wie ein Mittagsschlaf, die Sonne hat den Horizont nicht einmal berührt. Es riecht nach Salz und Petrol. Der fette rote Glanzlack der »Yamal« wirft Blasen, gehärtete Blasen, die aufbrechen und wieder überstrichen werden. Die russische Flagge meckert am Mast, und an diesem Morgen sieht man durch den Nebel kaum fünfzig Meter weit. Wir sind mitten in einer stehenden Bewegung, denn sie hat keinen Horizont. Nicht einmal das Grau changiert, es bleibt zwischen Himmel und Meer bloß grau.
Ich habe die Kabine 39 bezogen, zu anderen Zeiten die eines Forschers, Ingenieurs, Offiziers, ein schmuckloses, ganz funktionales Ensemble. Alle Romantik liegt in den Namen: Der Ventilator heißt »Zephir«, der Föhn »Scarlett«. Geschlafen habe ich auf einem Ausziehsofa, das von einer robusten Russin, einer alleinerziehenden Mutter aus Murmansk, bezogen wurde. Im rechten Winkel dazu steht der Resopaltisch, aus dem kleinen Kabinenfenster dringt die Eisluft frisch herein. Ich sitze auf einem schwankenden Bürostuhl und blicke hinaus, froh, unausweichlich mitten ins Nichts zu ziehen. Das Gefühl, etwas Auswegloses zu tun, nicht mehr wegzukommen, das ist es, was uns vor allem mit dem Begriff der »Expedition« verbindet, schon der Begriff »Forschungsschiff« soll unseren Appetit auf Komfort zügeln.
»Und?«, sagt Marga am nächsten Morgen, ganz die Eingeweihte, die dies nicht zum ersten Mal erlebt. Sie kennt die Räumlichkeiten, die Abläufe, und es gibt sogar Crew-Mitglieder, die sie mit den Augen begrüßen. Aber sie hält sich für sich. Nur mich schirmt sie gebieterisch ab, stellt sich sogar zwischen mich und andere, sucht beim Essen isolierte Sitzgelegenheiten und redet dann schnell und ziellos von vergangenen Ungerechtigkeiten in ihrem Leben, von Dummheiten, die andere Reisende gesagt oder gemacht haben, seltener auch von der Eislandschaft, die uns erwartet. Ihre Zuwendung bekommt etwas Manisches.
Nach zwei Tagen beginne ich, die Kreise zu öffnen, mich zu anderen zu stellen, den Essplatz zu wechseln. Zu den interessanten Konstellationen treten immer die Bedürftigen, die Sehnsüchtigen, die Bilderhungrigen zusammen. Bei Tisch sitze ich jetzt meist bei Hanni und Viktor, zwei weitgereisten Schweizern mit Tätowierungen aus Birma und mit einer tibetischen Fahne im Gepäck, die sie am Nordpol hissen wollen. Ihnen ist der Blick von der Reling genug.
Da oben, nahe der Brücke, stehen fast immer ein paar
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