Die Enden der Welt
Jahren von einer zweihundert Meter dicken Eisschicht bedeckt waren. Die hier auftauchenden, bisher unzugänglichen Lebensformen gehören zu den am besten erhaltenen Ökosystemen des Planeten. An diesem Ort entfaltet sich zwischen Kieselschwämmen eine neue Fauna voller ungeahnter Interaktionen.
Wetternester am Himmel. Inmitten einer Vegetation, deren morphologische Vielfalt unendlich und doch kaum sichtbar ist, im Treiben durch eine schmale Farbskala und in der Monotonie der Bewegung ist diese Reise die Objektivierung eines Zustands der Ausleerung. Schließlich sind auch die Eispanoramen Landschaft ohne Gegenwart. Man sieht sie von weither kommen, sieht die Welt in ihnen enden und kann nicht genug bekommen.
Ich stehe jetzt jeden Tag über viele Stunden an Deck. Die Natur legt ihr Schweigen auch über uns, und wer lange genug an der Reling steht, lässt bald nicht mehr als den Atem hören. Manchmal sucht jemand Kontakt. So hält mir eine russische Dame jede zweite Seite ihrer Illustrierten hin: ein Bericht über die Strände der Costa Brava.
»Wie bei uns in Sotschi.«
Sie kramt in ihrer Tasche: »Gott sei Dank bin ich gar kein Morgentyp.«
Sie sagt das, als gestehe sie ein Laster. »Gott sei Dank.«
So schelmisch. Sie weiht mich in die Geheimnisse ihrer SIM -Karte ein. Ich verstehe nicht, besitze kein Mobiltelefon.
»Hach, altmodisch. Altmodisch gefällt mir. Mein Vater war Nordpolflieger!«
Der Blick geht über das leere Meer. Die Eisdrift mit den Eisduft-Schwaden. Was sieht das stumpfe Auge der frisch geschlüpften Eiderente, die sich auf einem grünen Fleck inmitten des Eises mit diesem Lebensraum abfinden muss? Sie hat die Augen eines Maulwurfs im Eis, geboren mit einem Ausdruck der Selbstaufgabe.
Viktor Boyarski hat vor Jahren mit fünf Kameraden aus fünf Nationen auf Hundeschlitten die Antarktis durchquert. Geblieben ist ihm das Körpergedächtnis für den Zustand des Erlöschens und die Ehrfurcht vor den erstaunlichsten Kreaturen, den Schlittenhunden. Schnee und Kälte machen ihnen nichts aus. Sie können ihre Körpertemperatur absenken, kaum Energie verbrauchen, sich sogar einwehen lassen. Dann muss man sie nur einmal am Tag an der Leine hochreißen, sonst frieren sie am eigenen Urin fest. Nach Abschluss der Expedition reiste Viktor los, um die heroischen Tiere der Hundeschlitten-Expedition aller Welt zu zeigen. Zwei von ihnen verendeten allerdings auf einem Flughafen in Kuba, weil es dort zu heiß für sie war.
»Wäre Ihr Körper heute, mit Mitte fünfzig, noch in der Lage, diese Reise zu absolvieren?«, frage ich ihn.
»Mein Körper schon«, sagt Viktor, »aber mein Kopf könnte es nicht mehr.«
Die »Yamal« frisst sich tiefer in die Polarlandschaft hinein. Zurück weicht, was wie Natur aussieht. Die Vegetation zerstreut sich, die meisten Vögel machen sich aus dem Staub. Vor allem elementare Formen bleiben zurück, kristalline, polygonale, Tetraeder. Auch das ist eine Bewegung dieser Reise: Man lässt sich einschließen von der Landschaft, sitzt fest, und schon frisst sie sich in den Eindringling hinein, versengt ihm die Augen, schickt den Frost durch seine Kleider, dann durch das Fleisch. Alles, was Gewebe ist, wird Struktur, wird Gefrorenes und breitet sich im lebendigen Fleisch wie ein Starrkrampf aus.
Das Eis bietet eine grandiose Möglichkeit, sich davon zu überzeugen, wie egal der Mensch der Natur ist, und wenn man Reste menschlicher Ansiedlungen findet, so sind es zuerst die Gräber, Gräber mit rostigen Kreuzen und rührseligen Inschriften. Doch weit mehr sind es die unsichtbaren Grabstätten irgendwo im Eis, verweht und davongetrieben. Auf den Landzungen aber, wo die Forscher ihre Polarstationen hatten, da liegen rostige Nägel, Schellackplatten, belichtetes Filmmaterial, Geschirr, Flaschen, bearbeitetes Holz. Alles wird für die Nachkommenden zum Souvenir, es ist das Gedächtnis der Polregion. Hier sammeln sich nur diese paar von Schicksals Hand verlesenen Dinge.
Man tauscht sich über die Expedition von 1912 aus, als von zehn Teilnehmern nur drei zurückkehrten, einer wahnsinnig. Man streitet über Frederick Cook, Robert Peary und die Frage, wer wirklich zuerst am Pol war und welche Bedeutung dabei dem Schatten auf Pearys »Beweisfoto« zukommt. Selbst Payer und Weyprechts österreichisch-ungarische Mission von 1872 bis 1874 ist denen ein Begriff, die sich den Pol zunächst erlesen haben. Und gewiss, es ist eine Landschaft voller Vokabeln derer, die in ihr den Verstand
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