Die Enden der Welt
verfasst.
Jahre später erhielt ich einen Luftpostbrief aus den USA . Meine Adresse war so angestrengt in Druckbuchstaben auf das Kuvert gemalt worden, wie Kinder es tun, die den Stift in der Faust führen. Im Innern befand sich allein Signorellis Teufel mit den breiten Schwingen, der eine nackte langhaarige Frau über die ringende Menge hinweg ins Höllenfeuer fliegt. Der Krakel darunter las sich: »Saturn passing«. Der rettende Engel in der Rüstung zur Rechten war nicht mit im Bild.
Der Nordpol
Einkehr
In diesem Juli trägt die Stadt November. Ein läppischer, kühler Nieselregen geht über Moskau nieder, und unter dem fahlen Schweinehimmel ergrauen selbst die farbenfrohen, amphitheatralisch verschachtelten Siedlungen des Speckgürtels, die Drusen der Billigbauten des Stadtrands, der ganze menschliche Ameisendom. In den Zwischenräumen aber thronen die Vestalinnen der Likör- und Handyreklamen und herrschen.
Auf den Straßen unter ihnen zirkulieren die verhärmten, wenn nicht verrohten Gesichter der neuen Proletarier und der alten, die sich noch erinnern, wie es war, als die Politik in ihrem Namen sprach. Damals galt es als Auszeichnung, ein solches Gesicht zu haben, ein abgearbeitetes, erschöpftes Gesicht. Inzwischen hat die Verelendung einige Kleider und den Bart erreicht. In jedem Auto eine Kleinfamilie. In jedem Busfenster ein Trinker mit Boxernase. Dazwischen Gebäude mit hervortretenden Rippen.
In einem namenlosen russischen Hotel sehen wir einander erstmalig, die kleine Gruppe Reisende, die ihren bevorstehenden Trip nebeneinander als »Extremreise«, »Expedition«, »Abenteuer«, »Jahresurlaub« oder »Traum« bezeichnen. Ich verlasse den Frühstücksraum und trinke meinen Kaffee an einem Fenstertischchen des Vorraums. Eine etwa sechzigjährige drahtige Blondine von jüngerer Erscheinung setzt sich dazu, zündet sich eine Zigarette an, raucht mit schmerzverzerrtem Gesicht und sagt:
»Wir müssen zusammenhalten.«
»Das müssen wir«, sage ich. »Aber ich bin Nichtraucher.«
»Hat man da noch Töne?«, lacht sie. Den Ausdruck habe ich lange nicht gehört.
Für den Weg zum Flughafen wählen wir den englischsprachigen Bus, sitzen nebeneinander, stehen am Schalter nebeneinander Schlange, sitzen in der Tupolev nach Murmansk Seite an Seite, kommentieren, was wir sehen, und versorgen uns in den Beobachtungspausen mit ausgewählten Fragmenten aus unserem Leben. Marga ist Österreicherin, war Flugbegleiterin, verließ ihre Linie im Unfrieden, aber üppig abgefunden und hilft jetzt in einer Tanzbar aus. Unverheiratet und kinderlos ist sie und tritt hiermit bereits ihre zweite Reise in die Pol-Gegend an. Bis zum Franz-Joseph-Land hat sie es schon einmal geschafft. Das ist jetzt drei Sommer her. Der Expeditionsleiter war damals Viktor Boyarski, der erfahrenste aller Arktisreisenden, ein Mann, der den Pol mit Hundeschlitten erreichte, später von Präsidenten empfangen, von der Welt gefeiert wurde, und der auch unsere Reise betreut.
»Er wird Ihnen gefallen. Er wartet in Murmansk auf uns. Mal sehen, ob er sich noch an mich erinnert!«
Die Tupolev ist von außen elegant wie ein Papierflieger. Innen riecht sie verqualmt, ihre Sitze sind in sich zusammengebrochen, und mein Klapptisch hält nur deshalb ohne Verriegelung am Vordersitz, weil sich die Kotze, die ein früherer Passagier hier zurückgelassen hat, inzwischen auf dem Brett ausgebreitet und beim Zusammenklappen mit dem Vordersitz Klebekraft gewonnen hat. Als ich den Tisch löse, splittert die erstarrte Masse in Spänen auf meinen Schoß. Auch die Sitze sind strapaziert. Wo Polsterung sein sollte, blinkt Metall, das herausquellende Schaumstoffinnere wurde zerpflückt oder mit schwarzem Isolierband umwickelt, und nur die hochgeschminkten Air-Hostessen mit ihren grellblauen Uniformen und ihren auberginefarbenen Überhängen wirken so appetitlich wie aus einer anderen Hygienezone importiert. Der Teppich zu ihren Füßen aber ist wieder hässlich befleckte Auslegeware voll persischer Ornamentik.
Marga blickt aus dem Fenster:
»In der Wüste und in der Eiswüste sind Luftlinien wirklich Luftlinien.«
Die Reisenden, einige offenbar erprobte Tourismus-Snobs, reden mitunter wie Gottvater selbst:
»Dann haben wir den Südpol gemacht, dann haben wir noch die Nordwestpassage gemacht, dann haben wir Patagonien gemacht, vor zwei Jahren hatten wir ja schon den Kilimandscharo gemacht …«
Man hört die Konquistadoren, man sieht eine Hand, die Fähnchen über
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