Die Enden der Welt
auf der Rückseite zwei Männer im Kahn, mit den Rudern die Wolken schiebend; mit Krepppapier überklebte Zeichnungen; Bibelzitate; eine Kladde voller unleserlicher Fragmente, an einer Stelle Notizen unter der Überschrift »soundless exercises«; die Zeichnung einer Katze, die sich die Haare rauft, weil sie von Mäusen gebissen wird; weitere Fremdwortlisten; weitere Fotos von Flamingos; weitere graphische Darstellungen von Planeten.
Der beiliegende zwölfseitige, engzeilig geschriebene Brief war in den USA abgestempelt. Die Handschrift schien in ihrer Unordnung so regelmäßig, dass sie so gut anzusehen war wie die Hieroglyphen auf einem Obelisk. Die Phantasie wühlte sich durch das Strandgut des Lebens, und ich folgte, hoffte ich doch, das Erzählte würde am Ende in eine Erklärung münden für ihr Nichterscheinen in Orvieto. Stattdessen ging es wieder um die Zeit des Erwachens und der Orientierungslosigkeit, als ihr Begehren groß und ihre Schamhaftigkeit nicht kleiner gewesen war. Einem Abschnitt dieser Phase gab sie den Namen »saturn passing«, so erklärte sie sich ihre Verwirrung, selbst wenn sie Saturn »the planet of wisdom« nannte.
Auf der Highschool hatte sie einen Freund gehabt, Chester, den Nächsten in der Reihe der Unerlösten, Platonischen. Nachdem er seinen Abschluss nicht ohne Bravura hinter sich gebracht hatte, entschied sie, sich ihm zu schenken, ganz und gar. Da aber zog es ihn, der so lange gewartet hatte, ins Ausland, »and I really lost it«, sagten die Zeilen. Chester, so verrieten sie auch, kam in dieser Zeit als »spiritual guest« wieder. Dieses Mal endete die Geschichte damit, dass sie die Highschool verließ, entschlossen, in Europa Au-pair zu werden und unter dem heidnischen Himmel der Alten Welt ein echtes Liebesleben zu erwerben. Die USA , die Universität und das Sexuelle hatten sich für sie als nicht synchronisierbar erwiesen.
In der nächsten starken Phase des »saturn passing« machte sie sich auf die Reise nach Italien und ließ sich treiben.
»Doch wenn ich zurückschaue«, schrieb sie, »blieb mir aus all der Zeit am Ende nichts als deine Adresse. Peter hatte mir eine falsche Telefonnummer gegeben und seine Spuren verwischt. Also fuhr ich nach Florenz, um dich zu suchen, dann nach Rom, aber da warst du nicht, nach Orvieto, nach Perugia, wo konntest du sein? Endlich sah ich dich in einem Erker an der Straße nach Assisi. Aber da ich als Tramperin im Wagen saß, konnte ich nicht anhalten. Ich flog also heim in die Fremde, mit deinen Worten im Kopf. Hattest du diese Worte gesagt, hatte Peter sie mir übersetzt, waren sie in meinem Kopf erklungen, oder hatte ich sie aus deinen Gedanken abgeschrieben?«
Sie sagte nicht, welche Worte, ihre Handschrift ging aus dem Leim.
»I surrender. Ich unterwerfe mich. Daniel war mein erster Mann, aber er hatte immer nur Kleider unter seinen Kleidern, und man kam nie an. Peter war meine Sünde. Diese beiden mussten sein, um die Welt zwischen uns wegzuräumen. Es ist alles gut. Sei nicht ärgerlich, denn sie haben mich zu dir geführt, meine erste wahre Liebe. Ich bin bereit. Verzeih, it took me all this time to catch my breath. Now I surrender to you and to love and to life.«
Ihr Name stand darunter als ein nach rechts fallender Krakel. Keine weitere Erklärung folgte, aber fühlbar war doch die Anwesenheit eines Dritten in ihren Zeilen. Denen nichts mehr folgte.
Einen Monat später fand sich auf meinem Anrufbeantworter die harsche Stimme einer offenbar älteren Amerikanerin, die mir in resolutem Ton mitteilte, glücklicherweise habe ja unlängst der aufgeweckte »travel agent« Bernadettes Flugbuchung nach Rom abgelehnt, so verworren wie sie ihm erschienen sei. Ich solle mir ein Beispiel nehmen. Er habe die Familie eingeschaltet, und diese habe sich entschieden, »this young lady« in »custody« zu geben, in »professionelle Hände«. Zum jetzigen Zeitpunkt befinde sich Bernadette in einer »institution«, sie benötige dringend mentale Betreuung. Was sie nicht benötige, seien meine verantwortungslosen Briefe, die, wie jener aus der letzten und auch der aus der vorletzten Woche, keine Hilfe seien, sondern alles nur verschlimmerten. »Zu Bernadettes Schutz«, hieß es, »werden wir Ihre Zusendungen, sollten Sie nicht vom Abfassen solcher Ergüsse ablassen wollen, umgehend vernichten. Außerdem behalten wir uns für diesen Fall juristische Mittel vor.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich seit acht Wochen keinen Brief mehr an Bernadette
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