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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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der Landkarte verteilt, aber die Geschichten haben ihren Wert nur in Bezug auf die Person, die sie erzählt, und die das eine aus dem Fernsehen bezieht und das andere entweder »unbeschreiblich« oder »unglaublich« nennt. An extremen Orten fühlte sich hier schon mancher als Extremist und lässt dabei doch die Grundfrage aller Reisenden unbeantwortet: Wo war ich?
    Marga klagt, die Sprungfeder ihres Sitzes bohre sich in ihr Gesäß. Der Steward hört es sich mürrisch an, einen Angriff auf die Aeroflot wie auf das ganze russische Reich witternd. Dann blickt er kurz bekümmert und hebt die Schultern zu zwei Zentimetern Bedauern.
    »So ein Apparatschik!«, stöhnt Marga und wählt die Luftlinie zwischen zwei Klischees. »Und im nächsten Moment bricht er dir dann in Tränen aus.«
    Sie ist nicht bei der Sache, zumindest nicht involviert. Eher späht sie die Mitreisenden von ihrem inneren Hochstand aus und beschäftigt sich damit, was sie sagen oder denken könnten. Aus diesem Winkel blickt sie auch auf uns:
    »Sie werden sagen, ich hab mir einen Jüngeren geangelt«, flüstert sie, während sich ihre schmale Hand kurz auf meinem Unterarm niederlässt. »Ich weiß es. Du musst nur unverheiratet sein, kinderlos, schon geht das Gerede los. Ich kann sie regelrecht hören …«
    Am Flughafen von Murmansk werden wir neuerlich auf zwei Busse verteilt. Wo wir landen, ist die Ebene wüst und ungestaltet, und das Terminal kaum größer als eine Tankstelle. Aber die weit geschwungene Bucht mit ihrem Buschwerk, ihren hellen Birkenwäldern, ihren Matten legt sich generös um die Ausläufer des Polarmeers. Nur die Stadt wirkt von hier grau und pragmatisch, von keinem Ideal gestreift, ein angetauter Organismus, der zwischen seinen Mauern das Licht schluckt – ein Individuum von einer Stadt also, in seiner Lieblosigkeit original. Kaum rollt der Bus, erhebt sich eine russische Fremdenführerin aus der ersten Reihe und begrüßt uns:
    »Liebe Freunde. Ich werde Ihnen auf dem Weg in die Stadt ein paar unserer Sehenswürdigkeiten vorstellen.«
    »Sehenswürdigkeiten!«, höhnt von der Rückbank eine Berliner Schnauze. »Die will ich sehen.«
    In Ermangelung städtischer Reize legt die Führerin allen Charme in jedes ihrer Worte. Ja, ihre Vokabeln sind schöner als das, was sie bezeichnen sollen, und die eigentliche Sehenswürdigkeit ist sie selbst.
    »Hier rechts sehen Sie ein Bürgerhaus mit seinem Garten. Dann eine Datsche. Daneben haben Sie ein Beispiel der normalen Verwaltungsarchitektur.«
    Sie prononciert, als spräche sie fließend Gorki, Gogol, Tschechow, schminkt ihre Aussagen aber gleich wieder ab: »Auf dem Weg in die Stadt werden Sie nichts Besonderes sehen. Wir bauen hier normales Gemüse an. Sie werden in der Stadt auch einige norwegische Tankstellen bemerken.«
    »Die redet einen Scheiß, die Alte«, verkündet der Berliner.
    Die Führerin wendet sich strahlend zur Linken und lässt ihre Hand über eine verstrüppte Senke schweben, eine Schneise aus Nichts zwischen Industrieanlagen und Hochhäusern.
    »Hier sehen Sie das Tal der Gemütlichkeit, wie wir es nennen, wo unsere Athleten für die Olympischen Winterspiele trainieren.«
    Gelächter im Bus. Das Tal der Gemütlichkeit! Eine Ansammlung von Birken auf einer abgefressenen Grasnabe ist alles, was hier heimelig wirken könnte.
    »Gemütlichkeit! Ich könnt mich wegwerfen!«
    »Dies«, aber fährt die Unermüdliche am nächsten Verkehrskreisel fort, »ist der Platz der fünf Ecken. Aber, liebe Freunde, Sie werden an diesem Platz keine fünf Ecken finden.«
    Heute hat hier ein Zirkus sein Zelt aufgeschlagen, ein Zirkus mit singenden Seetieren.
    »Sie können sich von Robben küssen lassen!«
    »Da kann ich gleich die Alte küssen«, lässt sich der Berliner hören, immer noch auf der Suche nach Komplizen. Sein Begleiter strahlt dieses herrlich ordinäre Alphatier an und ist bereit für die Gefolgschaft.
    »Nun kommen wir in den nördlichsten Bezirk, er ist nicht so attraktiv …«
    »So siehst du aus«, ruft der Berliner.
    Anschließend erklärt er den Ort mittels Ferndiagnose für »unbewohnbar«. Die Führerin aber blickt ernst. Sie sagt, wie viele Menschen die Stadt inzwischen verlassen haben, wie schwer es für die Bleibenden sei:
    »Aber für Sie im Westen ist es ja auch nicht immer leicht!«
    »Die ist gelungen!«, ruft der Berliner ins Rund, und dann nach vorn: »Wer im Glasnost sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.«
    Anschließend erklärt er das, was sich

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