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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Reisende und stemmen sich mit schmalen Augen in den eisigen Wind. Der Berliner klopft mit der flachen Hand auf das Schiff:
    »Willst du gut und sicher reisen, fahre mit der Bahn aus Eisen. Na ja, sieht noch frisch aus, ganz intakt, funktioniert wohl noch …«
    Jeder auf diesem Schiff bereist eine andere Arktis. Die Matrosen belassen es bei unbewegten Gesichtern, hinter denen die Missbilligung liegt, befinden wir uns doch in ihrem Lebensraum und gehen sonst Tätigkeiten nach, die hier nicht zählen. Sie leben vom Geld und von der Verachtung, das steht ihnen zu, jenen gegenüber, die meinen, sie müssten kommod die letzten Punkte der Erde erreichen. Wäre die Nordwestpassage nicht um diese Zeit im Sommer frei, der Eisbrecher würde dort eingesetzt und nicht vom Tourismus entweiht.
    Andere reisen in Fritjof Nansen hinein oder im Nachvollzug der Reiseberichte von Robert Edwin Peary bis zu Christoph Ransmayr. Dritte reisen, weil sie die Antarktis schon gesehen haben, weil sie vermögend sind, weil sie sonst schon alles kennen, weil sie immer schon davon träumten … Es gibt den Industriellen, der den Nordpol »mal was anderes« nennt, den Mittelständler, der sich diese Reise seit Jahren »vom Mund abgespart« hat, es gibt den desinteressierten Spaßvogel, die Staunende, Stille, die alleinstehende Lehrerin, die Überlebende der Chemotherapie, und dann ist da auch der Mann mit dem kranken Kehlkopf, der kaum verständlich spricht und sich das Essen mit der Schere kleinschneiden muss. Er ist immer lustig, als sei er uns das schuldig, weil wir ihn so schlecht verstehen, und er treibt einen furchtbaren Kraftaufwand für einen einzigen, wunderlichen Witz.
    Um sieben Uhr morgens weckt uns Viktor Boyarski mit seiner immer wohlgelaunten Durchsage: »Dobraye utra. Guten Morgen, meine Damen und Herren, es ist Dienstag, der 7 . August, wir sind auf dem richtigen Weg, draußen wird es kälter. Wir befinden uns jetzt außerhalb des Golfstroms, denn draußen ist es ruhig. Zur Rechten waren bereits Eisberge zu sehen, und voraussichtlich am frühen Nachmittag werden wir die südliche Spitze des Franz-Joseph-Lands erreichen, das berühmte Kap Flora. Stehen Sie ruhig auf. Es erwartet Sie ein faszinierender Tag.«
    Schwacher Nordwestwind geht in der Barentsee. Es sind 7  Grad plus, noch fünfhundert Meilen liegen vor uns, wir bewegen uns mit einer leicht reduzierten Geschwindigkeit von 12 bis 13  Knoten, des Nebels wegen. Eine Inselgruppe taucht auf. Die Veränderungen in der Außenwelt sind minimal. Mal schiebt sich die Nebelgrenze weiter weg, mal drängt sie heran und schluckt uns. Dann dröhnt das Tuten des Eisbrechers lang und hohl in den Nebelraum. Manchmal zeigt sich kurz ein Stück Horizont, dann ist er weg, vom Treiben der Wolken überwuchert.
    An Deck absolvieren wir die Pflichtübungen zum Besteigen von Rettungsbooten, von Helikoptern. Langwierig werden Verhaltensmaßregeln für den Notfall besprochen, die Begriffsstutzigen tun ihre Pflicht und stellen begriffsstutzige Fragen, alles, damit wir nicht merken, wie lange wir schon durch das Undurchdringliche fahren. Der Monotonie des Kälteschmerzes, den die Polarreisenden der Geschichte empfunden haben müssen, entspricht nur noch die Monotonie der Farbe.
    »Das Trockenfutter schmeckt nicht gut«, sagt einer, der die Notration aus dem Rettungsboot probiert hat.
    »Wenn es gut schmeckte, würde es ja nicht sieben Tage halten«, erwidert Viktor.
    »Alles ganz wie bei Preußens«, sagt der Mann, den wir den »Blocker« nennen, ein Bielefelder Sparkassenfilialleiter, den seine Stellung und seine Freundschaft zu mehreren CDU -Hinterbänklern autorisiert, jedes Gespräch zu unterbrechen, indem er dem Redenden die Hand auf den Unterarm legt.
    Wie die Schulkinder werden wir wieder in unsere Kabinen geschickt, wo wir im Notanorak sitzen und auf das Signal zur Alarmübung warten: Siebenmal kurz, einmal lang, der Rettungsboot-Alarm!
    An diesem Tag werden wir alle gerettet. Die Durchsagen verkünden: »Wir sind zufrieden.«
    Es klingt, als habe sich nicht allein die Schar der Passagiere, sondern auch das miese Wetter exakt den Wünschen der Crew gebeugt.
    Die Eisberge stehen in Scherben, Glasspäne zu ihren Füßen, während wir in die Zone des Schelfeises treiben, also der Eismassen, die seit Jahrtausenden von den Gletschern an der Küste »fließen«. Wir leben in der Endzeit des Schelfeises, wodurch riesige Flächen Meeresoberfläche freigelegt werden, die seit mindestens 12   000

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