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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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zugleich bekocht und ist seinem Protektorat unterstellt.
    Erst so gestaut, bringt der Verkehrsfluss die Organismen zur Erscheinung, die in ihm wimmeln. Uniformierte, Abgearbeitete, in Kaftan oder Hemdhose Gekleidete, struppige Veteranen, alerte Jünglinge klettern vom Bock, mischen sich, handeln, feilschen, streiten, zerren probeweise an der Vertäuung ihrer Fracht, begutachten sie oder die des Nachbarn, tauschen Streiknachrichten aus.
    Doch schließlich ist ja die Straße selbst Allegorie, und wie in einem Medium treten die Elemente des Verkehrs hier hervor. Der Eintritt in die Entbehrung und in die Opulenz des Schauens: Ein Kind balanciert einen blauen Becher über die Straße; eine Frau hackt im toten Flussbett einen Klotz zu Scheiten; vor einer Werbetafel mit dem Schriftzug »Playboy Whiskey« kämmt ein Mädchen sein langes schwarzes Haar; ein Junge krault einen anderen im Gehen am Ohr; ein Greis trägt sein Zicklein über der Schulter; ein Kind zeigt der Mutter die einzige Frucht an einem Baum; ein Mädchen stopft sich einen tröpfelnden Wasserschlauch in den Mund; eine junge Frau im roten Kleid bearbeitet hockend einen Stein, die nackten Knie bei jedem Aufprall zusammenschlagend; die Frauen tragen ihre Lasten in einer Kiepe auf dem Rücken, mit einem um die Stirn gelegten Band, sie gehen zur Entspannung der Nackenmuskulatur kilometerweit mit über dem Kopf verschränkten Armen; Viehtransporte holpern vorbei, aus deren Inneren es matt blökt; Kieslaster, aus deren Frachtraum es tropft; eine Frau wäscht die Füße ihres Kindes im Fluss; an der offenen Feuerstelle kauern Teerkocher mit rußverschmierten Gesichtern; Kinder unter Kiepen voller Steine, die sie über eine Zugbrücke von einer Seite des Flusses zur anderen transportieren; jeder Kiosk ein Schrein bunt schimmernder Tüten, farbiger Flaschen, schreiender Verpackungen; der rechthaberische Alte, der vom Sitz der Rikscha aus den Fahrer mit Stockschlägen traktiert; junge Männer, die auf dem Dach eines Kleinbusses Karten spielen; eine Pilgergruppe, die vorne am Wagen eine rote Fahne befestigt hat, zur Beruhigung der Maoisten; Kälbchen mit Maulkörben, angelegt, damit sie nicht die Milch der Mutter trinken; ein Mann beschwert das Blechdach seiner Hütte mit Ziegeln; ein Alter fährt eine Alte in der Schubkarre; ein ohnmächtiger Junge wird im Korb zum Krankenhaus getragen; ein Greis, der sich den Stumpf seines Beines salbt; ein anderer, dessen einziger Arm einen Gips trägt; ein Kleinwüchsiger, der Lasso-Schlaufen in den Straßengraben pisst; ein Mann, der Wäsche stapelweise transportiert, aber sie ist ergraut.
    Es sind Raubvögel in der Luft und Paraglider; ein Lautsprecherwagen rast vorbei, eine Durchsage, die Stimme eines Mannes drohend, die der Frau danach schmeichlerisch. Eine segelohrige Greisin, von Husten geschüttelt. Fünf Mädchen mit Dutt; die Busse vergittert wie Gefangenentransporte; der Lastwagenfriedhof; die Großfamilie zwischen den Aluminiumkannen; die Landarbeiter mit dem Pflug-Geschirr auf den Schultern; die Greisin, die mit gerafftem Rock durch die Pfütze kommt; die Göttin am Tomatenstand; der umgekippte Heuwagen; Frauen in Rot im nassen Stroh; die Bewohner des unfertigen Hauses; die Greisinnen unter der Laubkiepe; Männer im rosa Pyjama an der Straße; der Transporter mit »Feinstem Butterkaramell«, das geifernde Flussbett.
    Die Straße, die der Weg, der das Ziel ist: Alles fließt und transportiert Waren wie Geschichten. Jedes Bild wird im Blick nur kurz isoliert und dem Fluss wieder eingespeist. Blutbahn ist diese Straße, Aorta. Und zugleich ist dies die Strecke, auf der täglich Menschen für den Eintritt in den Verkehr bestraft werden und ihr Leben lassen. Ein Japaner, so heißt es, zählte die Unfälle eines Tages. Er kam auf 27 auf dieser Straße, teilte das allen seinen Freunden im Hotel mit, die daraufhin beschlossen, von Pokhara nach Kathmandu ein Flugzeug zu nehmen. Es stürzte ab.
    Umgehen kann man den Prithvi Highway nicht, alle Abwege führen zuletzt wieder auf ihn zurück, und so sammeln sich hier auch die Symbole des Lebensweges. Die zerfahrenen Tiere auf dem Asphalt liegen platt wie getrocknete Blumen zwischen Buchseiten. An manchen Stellen öffnet sich als Erinnerung an einen Ernstfall ein See aus grünen Glassplittern, über den sich der Hibiskus beugt. Schaulustige überall und nirgends unbeschenkt, Geier, aus der Höhe herabstoßend, wo ein Wagen liegen bleibt, Hyänen, die rund um die verlassenen

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