Die Enden der Welt
Prithvi Highway unter einem tiefhängenden Himmel, zwischen missmutigen Gesichtern im Ziegengeschrei. Eine Göre trägt, mutwillig modern, ein T-Shirt mit der Aufschrift »Stars and Straps«. Weiß sie, was da steht? In dieser Gegend sind Mädchen in jüngster Zeit mehrmals von ihren Lehrern entführt worden. Bei den Eltern traf dann regelmäßig eine Lösegeldforderung ein. Als man ihr aber nachkam, waren die Kinder schon nicht mehr am Leben. Die Polizei gab an, sie seien gezehnteilt gefunden worden, ausgeweidet für den Organhandel, und der Alte, der mir das erzählt, bindet seine Geschichte ab mit dem Satz:
»So haben sie unwillentlich doch zur Lösung des Problems beigetragen.«
»Welches Problems?«, frage ich ihn, den sein Stock im Matsch aufrecht hält.
»Das Problem, das der Verbleib der ungewünschten Kinder darstellt.«
Und während er weiter in das Donnern der Lastwagen flüstert, die um diese Kurve biegen, rückt er langsam mit den Fakten heraus: Vielfach lässt man die Mädchen in den Küchen der Städte arbeiten. Oft werden sie dort vergewaltigt. Die daraus entstehenden Kinder verschärfen das Problem.
Ich drehe mich um: Diese Ställe da, diese drei Tische unter dem Vordach, die aufragende Felswand dahinter, der Blick auf die Kurve des Prithvi Highway, auch das ist vielleicht die Heimat von jemandem, der Fluchtpunkt des Sehnens, das in einer Küche in der großen Stadt geboren wird. Es ist ein böses Déjà-vu: Man blickt das Elend vorwurfsvoll an, weil es so unoriginell ist. Überall das gleiche Verhältnis von Armut und Hygiene, überall die Behausungen im Dreck, die Lasten-Tragenden ohne Stimme, die Kinder, die nach Zukunft gieren, die Greisinnen im verschossenen Bunt, die Opfer im Versuch, sich das Elend aus dem Gesicht zu wischen. Die Vernachlässigten der Masse: Ihr seid wie alle.
Auch hier eine Hauswirtschaft ohne Männer. Die Großmutter bereitet auf der Feuerstelle die Suppe zu, die Mutter setzt dem kleinen Jungen mit zwei flussblinden Augen ein Barett aus orangem Filz auf und macht ihn reisefertig. Wie ungeschickt eingesetzt wirken seine Augen, die strabistisch voneinander weg weichen. Wunderschön, die Züge dieses Jungen, durch die die Störung klirrt. Er blickt wie aus schiefrunden Perlen in die Welt, und sein Lächeln, als er vom Rücksitz des Motorrads winkt, wo ihn die Eltern zwischen sich einklemmen, geht in die Leere. Dann fädelt sich das Motorrad in den Verkehrsfluss ein.
Wir essen Dhal Bat vom Blechteller, auch diesen weißen Pulau-Reis sprenkeln die Ameisen. So gehört sich das. Immerhin ist dies ein Arme-Leute-Essen aus Hirse, Reis oder Kartoffeln, gemischt mit den Curry-Soßen oder den Gemüsen, die eben da sind. Eine Linsensuppe ist immer dabei, und so wird hier sogar Dhal Bat genannt, was anderswo Wassersuppe mit drei schwimmenden Linsen wäre. Zuletzt trägt die Greisin Honig direkt aus der Wabe heran, versetzt mit Limonensaft. Sie macht uns noch vor, wie man den Seim schlürft, die Wachsstückchen ausspuckt. Ihr nepalesisches Englisch klingt, als würde jemand parallel zum Sprechen Puffreis im Mund zermatschen. Dann der Tee, der nach Räucherstäbchen schmeckt, verquirlt mit Zucker voll gelben Einsprengseln in seinen großen Kristallen. Grau sieht er dennoch aus, und die Ameisen schuften weiter in seinen Bergwerken.
»Vorsicht«, warnt die Greisin, während wir schweigend trinken. Ihr Blick schweift sorgenvoll über das rieselnde Geröll am Hang: »Steinschlag!«
Vom Steinschlag getroffen aber ist weit und breit allein das Verkehrsschild, das vor Steinschlag warnt.
Unter der schweren Wolkendecke liegt auf der anderen Straßenseite das zugemüllte Flussbett, durch das die Hunde schnüffeln, und die Dschungeltrommeln der vorbeifahrenden Autos lassen nie nach. In dieser Kurve sammeln sich die Rückstände des Straßenlebens. Sie ist wie das Knie eines Industrieflusses, voller Dreck und Strandgut. Hundert Meter weiter, und die Straße führt um einen Fels und senkt sich ins Tal.
Wir sind satt, also was erwartet uns auf der anderen Seite der Kurve, hinter dem Fels? Die Alte, die uns das Essen zubereitet hat und seit ihrer Kindheit hier lebt, schaut mich undurchsichtig an.
»Sagen Sie doch: Was erwartet uns auf der anderen Seite?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber Sie leben doch hier!«
»Ich war nie dort.«
»Warum nicht?«
Vor vielen Jahren, erzählt sie, träumte ihr, sie solle nicht um diese Kurve gehen, »von wegen dem Unglück, das passieren könne«,
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