Die Enden der Welt
›jünger‹ oder ›älter‹ nennen. Sie ist. Das ist alles.«
»Sehen Sie das Ende der Welt?«
»Ich habe die Befürchtung, dass wir uns diesem Ende nähern. Wenn die Menschen dagegen auf ihre Seele hören würden, wäre es anders. Die Dämonen haben es schließlich auch schwer, uns zu zerstören, denn wir beten ja.«
»Sie befinden sich im Kampf gegen die Dämonen?«
»Ja, ich vermehre unsere Kräfte gegen die Dämonen.«
Während ich ihn beobachte, die Augen ohne Reflex, die bewegungsarme Mimik und Gestik, das verhuschte Lächeln, das sich in seinem Gesicht verläuft und irgendwo versickert, denke ich: Alle Fragen haben es zur Antwort gleich weit.
»Sie sind ein Weiser, also sagen Sie mir: Wie soll ich zukünftig leben?«
»Wir sind nichts, bloß Körper. Der Rest gehört Gott. Wenn wir auf dem Feld pflanzen, dann wissen wir nicht, was wir ernten werden. Welche Pflanze wird verdorren, welche wird reicher tragen als erwartet? Deshalb sollen wir uns auf die Gegenwart konzentrieren.«
»Gut, wie soll ich in der Gegenwart leben?«
»Bleibe bei der Wahrheit. Nicht du allein wirst davon profitieren, sondern alle. Die Körper sind doch bloße Materie, mal schön, mal nicht, mal dick, mal dünn. Die Seele aber ist ewig. Die inneren Augen sehen gut. Schlage sie auf, sieh gut hin, danach entscheide, tu es von innen.«
»Aber dann beschäftige ich mich ja die ganze Zeit mit mir selbst!«
»Wenn du es machst, wie ich gesagt habe, wird es gut sein für dich und für andere. Nicht jeder soll mein Leben führen, aber wenn man Gott nicht nah ist, kann die Seele nicht sehen, und man kann nicht richtig entscheiden.«
Wohin den Blick richten? Über die grauen Stelen der Tempelanlage, die im Anthrazit der aufragenden Himalaja-Wand zugleich ihre Entsprechung und ihren Abschluss hat? In die fratzenhafte Mimik des inspirierten, fidelen Greises gegenüber? In den Rauch, der von den Toten in malvenzarten Wölkchen herüberquillt?
»Ihre Haare sind über zwei Meter lang – aus religiösen Gründen?«
»Das ist eher mein Hobby: Haare wachsen zu lassen.«
Er nimmt den langen filzigen Zopf, der aussieht, als werde er innerlich von Mikroorganismen zusammengehalten und kompostiere eigentlich aus seinem Innenleben heraus, und wirft ihn mir um die Schultern. Umarmt bin ich, im Griff einer aromatischen Würgeschlange und vielleicht schon heimgesucht von der Plage seiner wimmelnden Zopfbewohner.
»Sind Sie gesund?«
Er frohlockt.
»Sehr gesund. Ich war noch nie krank. Fühle ich mich schwach, gehe ich hinaus und finde die richtigen Kräuter.«
»Haben Sie eine Vorstellung, wohin die Seele geht, wenn Ihr Körper nicht mehr ist?«
»Die geht nirgends hin. Die bleibt hier. Der Körper wird verbrannt. Die Seele brennt nicht. Seele ist Seele, in welchem Geschöpf auch immer.«
Abseits am Kanal liegt ein toter Junge unter einem roten Frotteehandtuch. Drei Frauen zu seiner Seite weinen. Als sie in ihrer Trauer die Hände in das Handtuch krallen, verrutscht es und gibt das Gesicht eines schlafenden Jünglings frei, elegisch wie ein präraffaelitischer Posterboy.
Nicht das Gebet, der Tod herrscht hier. Man erzählt sich Geschichten von Menschen, die auf dem Weg zur Verbrennung wieder aufwachten. Diese Scheintoten wurden von den Verwandten nicht zurückgenommen und müssen nun da oben in der Tempelanlage wohnen bleiben. Als Wiedergänger hausen sie lebenslang in den Höhlen oberhalb des Flusses. Sie heiraten sogar untereinander. Wir schauen hinauf zu ihren Behausungen, bloßen Starenkästen in der Wand, mit den bestellten Gärtchen nebenan, den Geräten unter einer Plane, den Holzdächern und Verschlägen. Heute haben sie sich ins Innere ihres Baus zurückgezogen, aber dass hier gelebt wird, am Rande des Tempelbezirks gelebt, innerhalb seiner Mauern, das kann man beobachten.
Oft sagen die Alten, die ihr Ende nahen fühlen: Ich werde euch jetzt verlassen und sterben. Sie nehmen noch eine Mahlzeit ein im Kreise der Verwandten. Dann müssen ihnen die Töchter oder Schwiegertöchter zum Essen das Wasser reichen, so will es der Brauch. Geschieht dies nicht, wird sich die Schuld materialisieren und in Dämonen, Heimsuchungen – wir würden sagen – Traumata wiederkehren. Eine vom Geistwesen besetzte Frau in ihren grauen Jahren irrt über das Gelände und schreit immerfort:
»Du hast mir kein Wasser gereicht, als ich starb!«
Die Vorbeigehenden schlagen die Augen nieder vor der Erscheinung, die beides ist: Frau und Geist, Mensch
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