Die Enden der Welt
Unfallstellen nach Trophäen stöbern, Geister, die zwischen den Erinnerungen an all die Unglücksfälle wesen: der geborstene Baum, die schwarze Bremsspur auf dem Asphalt, die Innereien eines Busses, Wrackteile im Astwerk, schräg liegende Kleinbusse. Die Fährten von Kollisionen, von Desaster und Himmelfahrt. Das Überleben der Mehrheit derer, die hier fahren, und auch derer, die wir an den Straßen wohnen sehen, hängt an einem seidenen Faden – oder an mehreren. Wozu sollten die Nepali auch sonst drei Millionen Götter beschäftigen?
Die Regenwolken quellen jetzt wie Wollmäuse über den First der Berge. Als Schösslinge stehen die Bäume, von unregelmäßigem Wuchs. Eine Wolke schwül angedickter Luft fängt sich in der Kurve. Da hocken sie vor einem Kubus, der ihr Zuhause ist, ein 12 -Quadratmeter-Areal, sie hocken und sind voller Grazie: Dauernd machen sie Bewegungen, die durch das Unbewusste gegangen sind, schwerelose, routinierte, immer schon da gewesene Gesten, die aus dem Vorbewussten kommen und wie aus der Zell-Erinnerung abgerufen werden: das gedankenlose Rühren in einem Topf, das Richten der verrutschten Kleidung, das Kleinschneiden einer Frucht, das Kämmen des Kindes, das Aschefegen. Lauter stumme Handlungen, die vollzogen werden, während die Augen über den Straßenabschnitt schweifen.
Auch bauen sie ihre Häuser, Läden, Schuppen und Kontore nie auf einmal groß. Sie bauen klein, und sie bauen an, bis ein Schachtelkasten von Behausung entsteht. Alle haben eine kleine Loggia vor dem Haus mit einem Tisch oder mehreren. Das ist unser Stil, sagen sie und sitzen da und empfangen. Und jedem Fremden in diesen Unterständen wird süßer Tee gereicht und Zucker, durch den die Ameisen pflügen.
Der Berg, dem wir uns nähern, schafft sein eigenes Klima. Auf Fotos ist er immer nackt. Doch in der Wirklichkeit hält er sich fast unablässig verhüllt. So klar der Tag auch sein mag, der Gipfel bleibt umwölkt. Das verstärkt sein Geheimnis. Einer der Fahrer sagt:
»Nun wohne ich schon so lange hier, noch nie habe ich ihn ohne Wolkenkleid gesehen.«
Zeigt sich der Berg nackt, wirkt er wie ein Erd-Erotikum mit seinem massigen Körper, seinem verschneiten Gipfel in Grau-Blau und Weiß. Verglichen mit den Wolken ist so eine Bergeskrone in einer anderen Materie geballte Kraft. Wir blicken auf diese Höhenzüge auch im Gedanken an die Bergvölker, die dort noch um ihr Überleben ringen, die Thakali, Gurung, Sherpa, Raute, Chepang, Kirat, Dolpo, Magar, Rai, Dhanuwar, Tharu, Satar, Limbu, Gine, Mugal, Lhomi. Völkernamen wie Akkorde auf einem fremden Instrument.
Die dazugehörigen Populationen teilen sich die Lebensräume mit dem Mikadofasan oder dem Formosa-Makaken, Tiere, die im Museum aussehen, als seien sie erst in der Vitrine gestorben, während die Blumen Namen von Linné’scher Eleganz tragen, Anemone vitifolia, Bergenia eiliata, Lagotis kunawurensis, Inula, Selinum und Taraxacum. Und schließlich existiert in diesen Höhen selbst das rätselhafte Cordyceps sinensis, ein Wesen, das sechs Monate Insekt, sechs Monate Pflanze ist, und das, als Starkmacher im Schoßbereich gerühmt, erst ab 4500 Metern über dem Meeresspiegel gefunden und später teuer bezahlt wird.
Doch warum sollte die menschliche Morphologie weniger vielgesichtig sein? Einmal habe ich dort oben, weit über zweitausend Meter, an einem Unterstand gegessen. Die besorgte Wirtin, die eigentlich in fünftausend Meter Höhe wohnt, aber für ein paar Monate im Jahr herabsteigt, Suppe kocht, Textilien anbietet und jeden Löffel sorgenvoll begleitete, der in meinem Mund verschwand, trug Goldschmuck in den schmutzigen Ohren und war als Besitzerin von drei roten Plastiktischen auf der Höhe von Sarankot eine arme wohlhabende Frau.
Wenn sie sich etwas von der Zukunft wünschen dürfte, dann wäre es wohl die Vergangenheit, jedenfalls sprach aus ihr die Frau, die in der Gegenwart nicht heimisch geworden war, und so erinnerte sie mich unwillkürlich an den Chepang-Führer, der mir von seiner Vertreibung aus der Höhe erzählte, wo die Bienen sterben, die Sprachen ebenso, wo ein halbnomadisches Leben nicht mehr möglich ist, von wo die Jugend schon flieht, um den Raum in der Ebene zu erkunden, wo die Ihrigen aus kulturellen Gründen nicht wohnen wollen und sollen. Als der König den Chepang-Führer ehemals gefragt habe: Was wünschst du dir, ein Auto, ein Haus?, hatte der erwidert: Ich hätte gerne meinen Wald zurück.
Wir halten in einer Kurve des
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