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Die Enden der Welt

Die Enden der Welt

Titel: Die Enden der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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streckte ihm meine ganze Hand entgegen für die Fünf. Nein, »Empat« beharrte mein Gegenüber, wieder seine ganze Hand hinhaltend. Und ich wieder meine dagegen, »Lima« rufend. Zwei Hände, zweimal fünf Finger, gegeneinander aufgerichtet, doch zwei Resultate. Endlich erfuhr ich: Für den Einheimischen Borneos zählt der Daumen nicht als vollständiger Finger. Also signalisiert man mit zwei vollen Händen die Zahl Acht, und ich gewann beim Übersetzen einen neuen Blick auf den Körper.
    Am nächsten Tag war der Geschichtenerzähler vom Dorfplatz wieder da, wieder mit seiner Decke, stellte ein paar Kerzen drumherum und erzählte erneut von den Tieren, den Tieren unter der Decke. Es gab immer ein großes Geschrei, kaum hob er einen Zipfel an oder rüttelte ein bisschen an einer Ecke. Wenn ich aber aufstand, dann schlossen sich mir die meisten Kinder an, und sie warteten auch, wenn ich in meinem Gästehaus verschwunden war, bis ich wieder ins Freie trat. Ich las derweil im Dunkeln mit der Taschenlampe die Bibel, die mich allerdings ernüchterte, als ich feststellte, wie viele ihrer moralischen Geschichten auf Tauschverhältnisse hinauslaufen.
    Ich knipste die Taschenlampe aus und fragte mich: Wäre ich mit einer gewissen Vorbereitung mit meiner Bibellektüre besser zurechtgekommen? Hätte ich dem Nachbarn im Flugzeug vielleicht zuhören und mir von ihm die Liebe Christi erläutern lassen sollen? Doch andererseits: Wann wäre Kommunikation jemals nicht gebrochen? Nicht der Nachbar, der Schweizer, der Alkohol, nicht die Bibel, nicht das Wörterbuch, nichts bewahrt den Reisenden vor seiner Vereinzelung, dachte ich und sackte in einen Schlaf voller übler Träume.
    Am folgenden Tag besuchte ich drei Missionarsschwestern, die unter einem Fliegenfänger am Tisch saßen und karge Mahlzeiten einnahmen. Sie erzählten, wie sich das indonesische Hausmädchen anfänglich immer mit zusammengelegten Händen vor dem Fliegenleimband verbeugt habe, hielt sie es doch für ein christliches Requisit, das es zu achten gelte.
    Die Schwestern wussten viel. Geologen, berichteten sie, haben die Bodenqualität auf einer Skala von 1 für unfruchtbaren Sandstrand bis 10 für die Erde Javas klassifiziert. Danach besitzt der Boden Zentralkalimantans nur die Qualitätsstufe  2  – unfasslich für jeden, der den Früchtereichtum der Märkte hier kennt oder tagelang mit dem Boot durch eine Vegetation gefahren ist, deren biologischer Formenreichtum nur noch mit einigen Korallenriffen vergleichbar ist. 1 , 7  Millionen Tier- und Pflanzenarten sollen im tropischen Regenwald zu Hause sein. Nicht einmal die Hälfte hiervon ist wissenschaftlich erforscht, zu schweigen von der Analyse der Enzyme und Fermente, der Drogen und Medikamente, die mit der Zerstörung dieses Lebensraums unwiederbringlich verloren gehen.
    Seine Fruchtbarkeit verdankt der tropische Regenwald Borneos also nicht primär dem Boden. Sie liegt vielmehr in der Luft, im Blattgrün, in den zahllosen symbiotischen Verbindungen zwischen Pflanzen und Tieren. Vierzig Meter über dem Boden wachsen in toten Bäumen Sträucher und Blumen aus den verlassenen Nestern der Orang-Utans. Kerne, verfaulte Früchte, Kot und vermodernde Zweige mischen sich zum Kompost und lassen neue Mikrokosmen entstehen mit einem hoch verletzlichen inneren Gleichgewicht.
    Die Schwestern erzählten mir auch von der Straße von Palangkaraya. Im wilden Herzen Borneos gibt es Pfade und Traumpfade, keine Straßen. Die Ansiedlungen im Dickicht aus Macchie und tropischem Regenwald, die Haufendörfer an den breiten grauen Strömen sind nur durch Wasserwege oder die unsicheren Luftrouten lokaler Fluggesellschaften miteinander verbunden. Wenn also mitten im Dschungel, gleich hinter Palangkaraya, plötzlich dreißig Kilometer Asphalt ausliegen, so bilden sie für ehemalige Kopfjäger, Waldmenschen, die im Einbaum an die Peripherie der Zivilisation paddeln, eine eigene Sehenswürdigkeit. Denn dieses Stück Straße wurde vor vielen Jahren von »den Russen« gebaut, warum, weiß hier kein Mensch mehr, war doch Tangkiling, der Ort am Ende der Straße, immer bedeutungslos.
    Die Straße von Palangkaraya, so sagen sie, führt mitten durch den zerstörten, von Brandrodung gezeichneten, immer schwelenden tropischen Regenwald. Von hier aus sieht man dem heutigen Dschungel ins Gesicht.
    Es ist wahr: Der Urwald Borneos brennt in jedem Augenblick an vielen Stellen. Wie Wolkenfetzen hängen die Schwaden zwischen den Bergen oder gelbgrau

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