Die Enden der Welt
während der Fahrt meterlange Schlangen und Krokodile ins Wasser. Sobald sich eine Wasserpflanze in unsere Schiffsschraube flicht, springt der Bootsmann trotzdem mit der Machete bewaffnet in die undurchsichtige Brühe und befreit uns in mehreren Tauchgängen, während der Maschinist von oben aufpasst, dass sich kein Angreifer nähert. Ehemals Feinde der Primaten, sind die Schlangen und Krokodile heute selbst bedroht. Ihr Hauptfeind ist auch der des Orang-Utans: der Mensch.
Am Strom winden sich Schlangen durch das vom Niedrigstand des Wassers freigelegte Wurzelwerk. An manchen Bäumen erkennt man die Markierungen der irgendwo im Busch lebenden Volksstämme, die so ihr Territorium bezeichnet haben. Einige wohnen sogar in den Bäumen, andere auf Lichtungen oder an nahen Bachläufen. Sie leben animistisch. Auch Anthropophagen, kannibalistische Stämme mit der Neigung, zum Schutz gegen Dämonen den menschlichen Skalp an der Außenwand des Hauses anzubringen, soll es bis in die fünfziger Jahre hinein auf Borneo gegeben haben. Doch nie verstummen die Geschichten, die Ähnliches noch für die jüngste Vergangenheit behaupten.
In Palangkaraya aber, der erst 1957 gegründeten Hauptstadt von Zentralkalimantan, kann man fotokopieren und technische Apparate kaufen. Hier gibt es vier Kinos, aber Straßenbeleuchtung noch nicht lange. Es gibt ein großes Krankenhaus, aber nur einen Chirurgen für alle, die tagelang in ihren Einbäumen wegen einer Blinddarmoperation oder der Behandlung einer Schnittverletzung hierher unterwegs sind. Es gibt Banken, aber noch nicht lange solche, die Schecks oder Dollar akzeptieren. Es gibt Computerspezialisten und korrespondierende Mitglieder wissenschaftlicher Zeitschriften, aber nicht selten sind es dieselben, deren Glaubenspraxis rituelle Schlachtungen und Trance-Tänze einschließt.
Der letzte Gouverneur der Region, immerhin im Rang eines Ministerpräsidenten, verfügte testamentarisch, sein Sarg solle aus dem Holz eines sogenannten »Herzbaums« gefertigt werden, eines Baums also, bei dessen Pflanzung in der Wurzel ein menschliches Herz eingesetzt wurde. Die Einheimischen merken sich im Urwald solche Bäume, und es war, als ich Ende der achtziger Jahre nach Palangkaraya kam, kaum ein Jahr her, dass der Bitte des großen Staatsmannes entsprochen worden war.
Seit die Regierung die Lebensform der Dayak für »unzeitgemäß« erklärt hat, sind auch die Kopfjäger von der Bildfläche verschwunden. Zwar haben viele Einheimische bis in die siebziger Jahre hinein die Friedhöfe geheim gehalten, aus Angst, Kopfjäger könnten die Verblichenen ausgraben und ihre Schädel davontragen, in jüngerer Zeit aber soll man sich schon verschiedentlich mit Tierschädeln beholfen haben, immer in der Hoffnung, dass die schlafenden Geister den Betrug nicht merkten. Schädel jedenfalls, unter den vier Grundpfosten eines Hauses angebracht, sollen bei der Brautwahl helfen und die Geister repräsentieren, die dem Verstorbenen in der Unterwelt zu Diensten stehen.
Eine Anthropologin, die sich aus keinem anderen Grund in den Urwald aufgemacht hatte, als um die Spur dieser »Menschenfresser« aufzunehmen, wurde eines Abends in der Hütte eines Einheimischen gefunden, wo sie sich, nackt und völlig verängstigt, in eine Gardine eingerollt hatte, verwirrt. Von Kannibalen konnte sie nicht berichten.
Ich blieb ein paar Tage in Palangkaraya. Nicht weit vom Kino steht abends auf dem Dorfplatz ein Geschichtenerzähler. Er ist am Nachmittag mit dem Boot angekommen und trägt zerrissene Kleidung, Tierfelle und mehrere Amulette übereinander. Als er seine Decke ausbreitet und von den Tieren erzählt, die nun gleich aus dem Boden kriechen werden, um sich dann durch die Menge zu bewegen, schreit diese Menge, als erfahre sie jedes Wort am eigenen Leib. Dabei steht das Kino nur einen Steinwurf von hier, und der Soundtrack des Films, der gerade da läuft, untermalt auch die Fabeln des Erzählers. Über dem Eingang zum Kino hängt ein Schild mit der Aufschrift »höflich, geregelt, ruhig«. Unsere »Rambos« und »Rockys« kommen trotzdem bis hierher.
Hier, wo mehrere hundert Sprachen und Dialekte vorkommen, aber kein Englisch und kaum die sterile Amtssprache mit dem Namen Indonesisch, hier kam ich zumindest bei den Zahlen mit Indonesisch aus. Fragte ich aber, wann das Schiff ablegte, streckte mir ein Hafenarbeiter die fünf Finger einer Hand entgegen und sagte »Empat«, aber »Empat« heißt »vier«. Also »Lima« konterte ich und
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