Die Enden der Welt
Batikhemden und T-Shirts, Verschleierungen. Die hier auf dem Flughafen stehen, strapaziert und voll müder Erwartung, können sich untereinander kaum verständigen. Das Indonesische ist eine spät entwickelte, synthetische Amtssprache, die gut zweihundertfünfzig regionale Sprachen und ebenso viele Dialekte ersetzen soll.
Die Ankömmlinge teilen die Erwartung, sonst nichts, und statt einer geeigneten Vorbereitung erhalten sie ein Versprechen. Das alles sollt ihr haben: ein Haus, Land, Saatgut und ein Präsidentenfoto. Darüber hinaus erhalten sie noch ein wenig Unterricht in Ackerbau und in Hygiene. Aber das kennen sie: Schließlich hat auch auf Java jeder größere Ort ein Familienplanungsdenkmal, Sinnbild der glücklichen Kleinfamilie, und auf den Dörfern gibt es wenigstens das entsprechende Verkehrsschild: eine Hand mit zwei gereckten Fingern, »dua anak cukup«, »zwei Kinder sind genug!«
Im Waschraum des Flughafens Banjamarsin erläutert eine Zeichnung die Benutzung der westlichen Toilette: »Hocke dich nicht mit den Füßen auf den Rand, schöpfe kein Wasser aus dem Loch und stecke auch deinen Kopf nicht hinein!« Neben dem Spiegel die Regeln der Körperhygiene: »Vergiss auch die Ohren nicht, nicht die Nase und nicht einmal die Spitzen deiner Ellenbogen!« An den Wänden der Halle bleichen die Tafeln mit Tieren und Pflanzen des Waldes, daneben die altmodisch strahlenden Gesichter der »Lifebuoy«-Reklamen, die monochromen Werbungen für ABC -Drinks und Ultra Milk. Andere Bilder sieht man nicht.
Am Waschbecken fand ich mich in der Gesellschaft meines Schweizer Sitznachbarn aus dem Flugzeug wieder. Er schaufelte sich mit beiden Händen unermüdlich kaltes Wasser ins Gesicht und sprach das eigene Spiegelbild an:
»Ich muss wach werden. Ich muss wach werden.«
»Holt man Sie ab?«
Er drehte mir den ganzen Oberkörper zu und wirkte kurz, als hätte ich etwas Obszönes gesagt.
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, erwiderte er. »Ich empfehle mich dem Herrn. Das sollten Sie auch tun. Für wen sind Sie hier?«
»Für meinen Nächsten«, sagte ich so unironisch wie möglich. »Und Sie?«
»Für meinen Bruder«, sagte er und meinte es sichtlich ernst.
Die Dörfer, in denen die Ankömmlinge aus Java verschwinden werden, besitzen manchmal ein Fernsehgerät auf einem hölzernen Podest, vor dem man abends dem einzigen Programm folgt: Nachrichten, Bilder von Paraden, Ordensverleihungen und rituellen Tänzen. Mal rodet jemand ein Gebüsch, mal zieht er eine Fahne hoch oder macht ein Boot klar, und zwischendurch erklärt Lorne Greene, immer noch in der weiß wattierten »Pa-Bonanza«-Jacke, den Seefuchs oder andere Tiere, die es auf Borneo nicht gibt, wo so viele Arten verbreitet oder sogar endemisch sind. Aber schließlich lebt ja selbst Lorne Greene inzwischen nicht mehr.
Die Fernsehwerbung war von der Regierung hier schon vor Jahren abgeschafft worden, um »keine falschen Bedürfnisse« zu wecken. In den Läden ihrer Dörfer aber fanden die Siedler die Glanzbildchen der Produkt- PR und daneben vor allem Rohstoffe, Naturprodukte, nicht-designtes Essen – Früchte, Knollen, Hühner- und grüne Gänseeier, Dörrfisch, Gewürztütchen und in den Vitrinen das prachtvolle Rot-Gold der Nelkenzigaretten, an den Wänden einzelne Kalenderblätter mit Ansichten von Teneriffa oder Garmisch-Partenkirchen.
An der Straße hatte ich mir mit einem jungen Mann ein Taxi geteilt, der ein bisschen Englisch sprach. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren, verriet er mir, war er nichts Geringeres als der größte Blutegel-Forscher Indonesiens. Für die Nacht lud er mich in das Haus seines Vaters ein, der als muslimischer Richter eine hohe Autorität am Ort und zugleich so freundlich war, den fünfzig Kindern, die gekommen waren, den Weißen zu sehen, bei Einbruch der Dämmerung etwas Essen hinauszubringen. Wenn wir über die Fensterleiste blickten, sahen wir sie da im Halblicht ruhig sitzen, um abzuwarten, dass wir uns zeigten.
Als ich der Familie beim Abendessen erzählte, dass ich am liebsten auf einem Boot nach Palangkaraya reisen würde, breiteten sie eine Karte aus, und wir fuhren mit den Fingern Ströme abwärts, Ströme, Verästelungen und Mündungen, den ganzen Aderlauf des tropischen Regenwalds entlang, um am Ende aller dieser Kapillare den Knotenpunkt zu finden, der »Palangkaraya« heißt.
Am nächsten Tag mieten sie einen Steuermann und einen Maschinisten und ich gehe an Bord eines Bootes. Mehrmals schieben sich
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