Die Enden der Welt
nichts mehr als das harte Alang-Alang-Gras, das den Boden allmählich mit einer so dichten Decke überzieht, dass für lange Zeit nichts hindurchdringt. Erst nach fünfzehn oder zwanzig Jahren werden hier wieder Farne und Bäume wurzeln können, und nach weit über hundert Jahren könnte bei ungestörten Verhältnissen sogar eine Art Sekundärwald entstehen, der dem ursprünglichen Regenwald zumindest gleiche.
Die Bauern aber ziehen weiter. Ich sehe sie mit Sack und Pack über die Straße kommen. Auch ein Pick-up knattert vorbei, überfrachtet mit den Habseligkeiten der ewig enttäuschten, ewig rastlosen Siedler. Sie gewinnen neue Parzellen, schließen sich wieder zu Transmigrasi-Siedlungen zusammen und schwärmen zwei Jahre später in alle Himmelsrichtungen aus. Vereinzelt entstehen Musterdörfer wie Bukitrawi am Kahayan-Fluss, eine Siedlung, auf die die Landesregierung gerne verweist, gibt es doch hier eine Volksschule, eine Krankenbaracke mit sechs Zimmern und ein paar Kioske. Auf dem Bootssteg schlagen die Frauen die Wäsche, darunter schwimmen Kinder in Autoreifen auf den Abwässern.
Wer beim Ackerbau nicht genug verdient, zieht während der Trockenzeit, wenn das Wasser niedrig steht, an den Fluss und wäscht Gold. Die Erfolgreichsten fördern am Tag knapp ein Drittel Gramm. Sie erhalten dafür das Äquivalent einer halben Kinokarte.
Ich bin schon Stunden auf der Straße nach Tangkiling unterwegs, da schließt ein Mädchen auf einem großen schwarzen Hollandfahrrad zu mir auf und hält Schritt. Sie blickt mich so unverhohlen neugierig an, als erwarte sie jeden Augenblick meinen Kollaps. Die vierzehnjährige Gugah strampelt allmorgendlich drei Stunden mit dem Fahrrad zum Gymnasium in der Stadt. Ihr Transmigrasi-Dorf verlässt sie im Morgengrauen. Auf den Feldwegen wird es lange nicht hell. Der Rauch der Brandrodungen schluckt das fahle Sonnenlicht und ist oft so dicht, dass man kaum ein paar Meter weit sehen kann. Ab drei Uhr nachmittags steht die Sonne nur noch als Scheibe im Dunst. Sechs Stunden täglich also fährt Gugah durch eine abgerissene, fast verödete Landschaft. Weil aber auch die Lehrer des einzigen Gymnasiums weit und breit sehr schlecht und oft erst mit monatelanger Verspätung bezahlt werden, kommen die Schüler häufig vergeblich. Denn auch für die Lehrer ist es lukrativer, ihr Land zu beackern oder Gold zu waschen.
Vor einem Jahr etwa wurde Gugah mit einer Erkrankung der Atemwege in eines der sechs Zimmer der Krankenstation gebracht. Der Arzt aus der Stadt empfahl ihr, auf dem Schulweg künftig ein Taschentuch vor den Mund zu binden. Sie gehorchte. Darüber lachten, wenn sie auf ihrem Fahrrad vorbeifuhr, die Arbeiter in den Rodungen. Heute tragen sie selber Tücher um den Mund.
An manchen Tagen wird Gugah von ihrer Freundin Sri begleitet. Sri transportiert auf dem Rücken einen Korb mit Flaschen. Naturheilsäfte und Medikamente finden in der Stadt, wo sich viele keinen Arzt leisten können, guten Absatz. In der chirurgischen Station von Palangkaraya waren, als ich dorthin kam, nur fünf Patienten untergebracht. Sie schliefen unter fleckigen Moskitonetzen. Manchmal liegen Verwandte mit im Bett, manchmal liegen sie darunter.
Aber da der javanische Chirurg, der hierher versetzt wurde, Preise verlangt, die die wenigsten bezahlen können, wenden sich die Kranken inzwischen wieder gerne den »Dukuns« zu, Medizinmännern und -frauen, die zwar naturheilkundliche Kenntnisse besitzen, sich auch animistischer oder totemistischer Methoden bedienen, andererseits aber auch bisweilen Angst als Mittel einsetzen und Schwangere und Patienten mit Bruchverletzungen schon so lange massiert haben, bis Blutvergiftungen eintraten. Kein Wunder, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Zentralkalimantan nur bei etwa vierzig Jahren liegt.
Unter diesen Bedingungen vollzieht sich die Entwicklung, der wir den Namen »Fortschritt« geben, asynchron. Immerzu entstehen neue Bruchlinien zwischen den Schichten des kulturellen Wissens, den Traditionen, den Lehren, der Aufklärung und dem Aberglauben.
Zu beiden Seiten der Straße liegen abgeholzte Wälder, Ananasfelder, kleine Tümpel, in denen die Siedler mit Reusen fischen. Man verkauft auch Mangos an der Straße und Eier, in roten Kanistern Benzin, in blauen sogar Wasser. Man kann sein Fahrrad reparieren lassen oder einen Schirm kaufen gegen die Sonne. Was immer in den Häusern abseits der Straße gehortet wird, es findet seinen Weg an die Straße.
Die kleine
Weitere Kostenlose Bücher